Liebe, Chaos und Kartoffelsalat – Leseprobe
1
„Ratsch!“
Laura unterdrückte einen Aufschrei, während ihre heutige Enthaarungsexpertin ungerührt eine weitere Schicht heißen Wachses auftrug und sich unablässig dem Intimbereich näherte.
„Tut nicht weh“, versuchte die Frau, sie zu beruhigen, „tut nicht weh.“
„Au!“, schrie Laura drei Stellen später auf, weil die Haut am Oberschenkel deutlich empfindlicher war als an den Waden. Allein beim Gedanken an das schmerzhafte Finale traten ihr Schweißperlen auf die Stirn.
Immer wieder betonten alle, dass es von Mal zu Mal weniger schlimm sei. Doch das musste Einbildung sein. Es war bei ihr noch nie besser geworden. Jedes Mal, wenn sie auf der Liege lag und ihr der bedrohliche Geruch nach heißem Wachs in die Nase stieg, fragte sie sich, wieso sie sich das überhaupt antat.
Laura seufzte. Sie wusste, warum. Vince liebte es, wenn ihre Haut zart und glatt war, und wurde nicht müde zu betonen, wie sexy er sie dann fand. Daher gehörte der Besuch ihrer Enthaarungsexpertin, seit sie mit ihm zusammen war, im regelmäßigen Rhythmus dazu. Ein geringfügiger Preis dafür, dass sie ihren persönlichen Traumprinzen gefunden hatte.
Noch immer konnte sie es kaum fassen, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte, seit sie ihm vor drei Jahren bei einem New-York-Flug und einem schicksalhaften Upgrade in die erste Klasse begegnet war. Manchmal wünschte sie sich, dass die anderen sehen könnten, was aus ihr, Lehramtsstudentin Laura Wildgruber aus der nordrhein-westfälischen Provinz, geworden war.
Nachdem ihre Folterknechtin jedem Einzelnen ihrer störenden Körperhaare auf den Leib gerückt war, trug sie eine beruhigende Salbe auf den geröteten Stellen auf und verabschiedete sich.
Laura eilte hinüber ins Ankleidezimmer, wo Hannah, ihre persönliche Stylistin, schon auf sie wartete. Das smaragdgrüne Kleid, das sie gemeinsam ausgesucht hatten, hing auf einem Kleiderbügel bereit. Hannah war Lauras Rundum-Sorglos-Programm in Sachen Aussehen. Sie machte ihre Haare, ihr Make-up und suchte stets das perfekte Outfit für jede Gelegenheit aus. Vince hatte vollkommen Recht gehabt. Ohne ihre Hilfe wäre Laura bei einigen gesellschaftlichen Anlässen aufgeschmissen gewesen, da sie sich mit den Gepflogenheiten der New Yorker High Society nicht auskannte.
Sie setzte sich an den Frisiertisch und schloss die Augen, während ihre Stylistin eine Feuchtigkeitsmaske auftrug und Lauras Haare entwirrte.
„Wohin geht es denn heute?“, erkundigte Hannah sich.
„Heute sind es nur wir zwei – ins ‚The View“.
„Oh, ein romantisches Date am Valentinstag, wie schön, meine Liebe!“ Routiniert drehte Hannah die Heizwickler in Lauras Haare.
„Ja, ich freue mich auch sehr.“ In den vergangenen Wochen hatte Vince wenig Zeit für sie gehabt. Heute sollte dafür alles perfekt sein.
„Wer weiß, vielleicht kommt dann ja die Frage aller Fragen“, sprach die Stylistin aus, was Laura insgeheim hoffte.
Laura murmelte etwas Nichtssagendes, spürte aber, wie ihr Herz einen erwartungsfrohen Hüpfer machte. Ja, ein romantischer Heiratsantrag vor New Yorks atemberaubender Skyline wäre ganz nach ihrem Geschmack. Seit der Hochzeit ihrer Freundin Chelsea vor ein paar Monaten stellte sie sich vor, wie ihr großer Tag aussehen würde. Wenn es heute tatsächlich auf einen Antrag herauslief, dann hatte sich der mehrstündige Beautymarathon auf jeden Fall gelohnt. Tief in ihrem Inneren sehnte sie sich schon lange danach, endlich und unauflöslich zu ihm zu gehören, hier in New York Wurzeln schlagen zu können. Für dieses Ziel war ihr kein Preis zu hoch.
Sie verabschiedete Hannah und wollte gerade in ihr Kleid schlüpfen, als es an der Tür klingelte. Nach einem Blick durch den Spion erkannte sie Carl, den Concierge, und öffnete nur mit einem Handtuch bekleidet.
Carl hielt ein Päckchen in der Hand. „Hier, heute für Sie angekommen.“ Er zwinkerte ihr vielsagend zu. „Viel Freude damit!“
Pinke Schleife, Schuhschachtelgröße, edle Verpackung. Ob Vince ihr schon etwas zum Valentinstag schickte?
Sie trug ihr Geschenk ins Wohnzimmer. Was da wohl drin war? Neue Schuhe? Dessous? Sie kicherte. Vince hatte eine besondere Vorliebe für edle Wäsche. Damit hatte er sie von Anfang an überschüttet.
„Ich habe es gern, wenn ich eine schöne Verpackung aufmachen kann“, sagte er immer.
Andächtig zog sie an der Seidenschleife und nahm den Deckel ab. Im Karton befanden sich pinkfarbene Marshmallow-Herzen. Ihr Atem stockte, als sie unter den Herzen eine winzige Schachtel entdeckte. Sie hatte genau die richtige Größe für einen Ring. Behutsam entfernte sie das rosenbedruckte Papier und erblickte staunend eine burgunderrote Ringschatulle von Cartier.
War das seine Art, ihr einen Antrag zu machen? Voller Vorfreude klappte sie die Box auf und starrte den Inhalt an. Was sollte das denn? Wieso trieb er so einen Aufwand, um ihr einen schlichten schwarzen USB-Stick zu schicken?
Neugierig holte sie ihr MacBook hervor und steckte den Datenträger herein. Nur eine Datei mit kryptischem Namen befand sich darauf. Als sie sie anklickte, startete ein Film.
Verwundert sah sie, dass er ein Hotelzimmer zeigte, die Kamera auf das Bett gerichtet. Ihre Kehle wurde trocken. Eine innere Stimme riet ihr, sich nicht anzugucken, was gleich zu sehen war. Doch als hätte jemand sie hypnotisiert, war sie unfähig, die Augen von dem Bildschirm zu nehmen.
Ein Paar erschien, wild knutschend. Der Mann presste die Frau gegen die Wand und zerrte an ihrem Kleid. Bald stand sie nur noch im Stringtanga da, und Laura konnte eine schneewittchenartige Gestalt mit großen Silikonbrüsten erkennen. Sie kam ihr merkwürdig bekannt vor. War das etwa Chrystal? Warum schickte ihr jemand ein Sexvideo einer Frau, die sie lediglich einmal kurz auf einer Hochzeit getroffen hatte, in einer Ringschachtel von Cartier?
Als sich das Paar drehte, verstand Laura, warum. Nun lehnte der Mann an der Wand und schob in einer herrischen Geste Chrystals Kopf nach unten. Schmale Lippen, Stirnlocke, aristokratische Nase. Vince.
Im Nachhinein wusste Laura nicht, wieso. Doch sie sah sich den Film an. Komplett. Von vorne, über ausgefallene Bettpraktiken, bis zum Schluss, wo er wieder in seine Jeans schlüpfte. Mittlerweile war ihr eiskalt geworden, nackt in ihrem Handtuch. Und sie hatte den Boden unter den Füßen genauso wie ihre eigene Orientierung verloren.
Minutenlang starrte sie auf den nun schwarzen Bildschirm, während Tränen über ihre Wangen liefen. Genau in dem Moment klingelte ihr Telefon. Wie in Trance nahm sie das Gespräch an. In knappen Worten teilte Vince ihr mit, dass ihm bedauerlicherweise ein dringender Termin dazwischengekommen war, und er bis spät in die Nacht würde arbeiten müssen.
Fassungslos schmetterte sie das Telefon von sich und rollte sich wie ein Embryo auf dem Teppich zusammen. Wie naiv war sie gewesen, seine Ausreden die ganze Zeit zu glauben! Chelseas Hochzeit war mehr als ein halbes Jahr her. Hatte er sie seitdem betrogen? Sie fühlte sich dumm. So unendlich dumm, naiv und armselig.
Sie befand sich in einem Sog aus Schock und Verzweiflung. Der Schmerz war so groß, dass sie das Naheliegendste nicht zustande brachte: Vince zur Rede zu stellen. In ihr tobte ein Kampf zwischen der Angst, völlig allein dazustehen und alles zu verlieren, der Wut über seinen Verrat und einem überwältigenden Rachedurst. Diese Pole schienen sich gegenseitig auszubremsen und endeten in Handlungsunfähigkeit.
Immer wieder ertappte sie sich in den folgenden Tagen dabei, wie sie mitten in einer alltäglichen Handlung innehielt und in einen wilden Gedankenstrudel fiel. Die kreisenden Emotionen verwandelten ihren Körper in Blei, bis sie starr verharrte, bewegungslos, als wäre ihr Geist nicht in der Lage, dem Ende ihres persönlichen Märchens ins Gesicht zu sehen, und versuchte stattdessen, ihr Gehirn lahmzulegen.
Tagelang konnte sie keinen Entschluss fassen, was sie tun sollte, da spielte ihr das Schicksal in die Hände und nahm ihr die Entscheidung ab. Oder war es, besser gesagt, Dave?
Der stand einige Tage später vor der Tür und hielt Laura einen gefütterten braunen Briefumschlag hin. „Der ist für Vince. Top secret. Kannst du ihm den unbedingt sofort geben, wenn er heimkommt?“
Laura nickte und hoffte, dass Dave nicht sah, was mit ihr los war und in welchem Zustand sie sich befand. Doch er war unerwartet freundlich, verkniff sich fiese Bemerkungen zu ihren unfrisierten Haaren und lächelte ihr sogar aufmunternd zu. Ob er längst wusste, was Vince für ein Spiel spielte? Bemitleidete er sie etwa? Seit sie sich kannten, hatte er sie noch nie angelächelt.
Sie schloss die Tür ein wenig zu heftig und drehte den Umschlag in ihren Händen hin und her. Er schien förmlich darum zu betteln, dass sie ihn öffnete, lockte sie mit seinem unförmigen Aussehen. Schließlich hielt sie ihn für ein paar Sekunden über den Wasserkocher, damit ihre Neugierde keine Spuren hinterließ.
Interessiert hielt sie das Konzept zur Produktvorstellung der neuen Software in der Hand. Nächste Woche würde es so weit sein.
Seit drei Jahren arbeitete Vince auf diesen Termin hin, mit dem er sich und seine Firma in die Riege der weltweit führenden Softwareunternehmen katapultieren wollte. Immer wieder hielt er ihr minutiös Vorträge darüber, wie er sich die Keynote vorstellte. Dann wanderte er vor ihrem gigantischen Fernseher auf und ab, während sie bewundernd auf der Chaiselongue hockte, und dozierte.
Das ging über Eingangsmusik, bis zur Beleuchtung und der Frage, wann genau Vince auf die Bühne kommen sollte. Sogar das glorreiche (oder kitschige, dies zu beurteilen war Geschmackssache) Video zur Produktpräsentation hatte sie bereits unzählige Male gesehen. Erst wurden die Funktionen der Software vorgestellt und dann wurde detailliert gezeigt, welchen Anteil der grandiose Vincent Cunningham II am Unternehmenserfolg hatte.
Laura wusste genau, wie sehr er sich auf seinen Moment des Ruhms freute.
Neben dem Konzept entdeckte sie die Gästeliste und dann in einer quadratischen Hülle eine DVD, auf die jemand mit Post-it eine Nachricht geschrieben hatte: „Fertig, wie besprochen. Einziges Exemplar, damit wir Verwechslungen ausschließen. LG“
Wer mochte LG sein? Der Video-Techniker? Laura strich über die silbrig glänzende Scheibe und ihr kam eine teuflische Idee. Als wäre dadurch in ihrem Kopf ein Schalter umgelegt worden, wich die Lethargie der vergangenen Tage einer überschäumenden Energie. Endlich wusste sie, was sie zu tun hatte.
Wie ein König thronte Vince Cunningham II an seinem Ehrentag auf der Bühne und ließ sich von Branchenkennern und Journalisten feiern. Generös beantwortete er Fragen wie: „Denken Sie, dass Cunningham Enterprises bis zum Jahr 2025 die Konkurrenz überflügelt hat? Wie bewerten Sie die weiteren Wachstumschancen?“
Dann erhob er sich von seinem Platz auf dem Podium, den er mit drei anderen Entscheidungsträgern teilte, trat zur Seite und deutete jovial auf die Leinwand hinter sich.
„Sehen Sie selbst. Machen Sie sich persönlich ein Bild davon, wie Cunningham Enterprises in die Zukunft gehen wird.“
Mit siegessicherem Lächeln stand er auf der Bühne und beobachtete die Reaktionen der Zuschauer, als diese gewahr wurden, an was für einem bahnbrechenden Projekt in den letzten Jahren gearbeitet worden war. Die Geheimhaltung hatte funktioniert und kaum etwas war über die neue Software an die Öffentlichkeit gelangt. Das Programm wollte nicht weniger, als die Art, wie die Menschen private und professionelle Videos machten, revolutionieren. Mittlerweile waren viele Fernsehgeräte in der Lage, 3D Bilder auszugeben. Herstellen konnte man sie als Privatperson bislang allerdings noch nicht. Oder nur mit einem derart immensen Aufwand, dass ihn die meisten Nutzer scheuten.
Nun aber konnten die beeindruckten Zuschauer sehen, wie eine Familie die Kinder beim Spielen filmte und die Oma auf dem anderen Kontinent das Ganze wenig später mit Tränen in den Augen zu Hause ansah. In 3D, mit dem Gefühl, die Enkelkinder beinahe anfassen zu können.
„Erleben Sie Videoaufnahmen, als wären Sie selbst dabei gewesen. Genießen Sie Erlebnisse mit Ihren Liebsten, wo auch immer sie sein mögen“, erklang die sonore Stimme des Sprechers, der in epischer Breite die Vorzüge des Programmes auswalzte. „Dies alles verdanken Sie einem Mann, der mit seinen bahnbrechenden Visionen eine eigene Firma quasi aus dem Nichts aufgebaut hat.“
Dass Vince das lächerliche Vermögen von zweihundert Millionen von seinem Vater geerbt hatte, ließ der Sprecher generös unter den Tisch fallen.
„Dieser Mann gibt jeden Tag dreihundert Prozent, um die Firma zum Ruhm zu bringen“, fuhr die Stimme fort, während Ausschnitte gezeigt wurden, die Vince bei Präsentationen, am Schreibtisch und beim Austausch mit seinen Mitarbeitern zeigten.
Kopfschüttelnd dachte Laura daran, wie sehr sie ihn bis vor kurzem noch bewundert hatte. Nun erschien er ihr aufgesetzt und eitel mit seinen nach hinten gegeelten Haaren und diesem ständigen Gewinnerlächeln.
Wie einfach es gewesen war, sich in einem unbeobachteten Moment in die Videoregie zu stehlen und die bereitliegende DVD durch eine identisch aussehende auszutauschen. Tja, vielleicht hätte die moderne Softwarefirma doch eher auf einen USB-Stick oder gar einen Stream setzen sollen?
Völlig problemlos hatte sie es auf die Veranstaltung geschafft. Die Sicherheitsvorkehrungen waren lächerlich gewesen. Mit auf die Lippen gelegtem Zeigefinger hatte sie bloß bedeutet, dass sie eine Überraschung für Vince sein wollte. Und was für eine! Sein dämlicher Assistent hatte sie augenrollend durchgewunken. Wenn sich später ein Teil der Katastrophe und des Donnerwetters auf seinem Haupt entladen sollte, sollte es ihr recht sein. Sie hatte ihn noch nie leiden können und das hatte unzweifelhaft auf Gegenseitigkeit beruht.
„Vincent Cunningham gibt stets sein Bestes, um die Firma zum Erfolg zu bringen“, fuhr der Sprecher fort.
Auf einmal ging ein Raunen durch die Menge, das mehr und mehr anschwoll. Vince merkte als Letzter, was los war, da er dem Film den Rücken zu kehrte. Plötzlich schoss sein Assistent auf die Bühne und deutete auf die Leinwand. Vince drehte sich um und Laura konnte erst Verwunderung, dann Entsetzen in seinem Körper sehen. Denn genau in diesem Moment stieß der Mann auf dem Video die nackte Frau vor sich auf die Knie, damit sie ihm einen Blowjob gab. Dabei fokussierte die Kamera das erste Mal ungehindert das Gesicht des Protagonisten. Ohne jeden Zweifel handelte es sich um Vince.
Kreidebleich drehte er sich zu der Kabine oberhalb des Zuschauerraums um, in dem sich die Videoregie befand. Eigentlich sollte der Mann, der dort arbeitete, einen guten Blick auf die Bühne haben. Doch niemand reagierte.
„Aus. Mach den Scheiß sofort aus, du Wichser!“, schrie ein fassungsloser Vincent Cunningham, in dessen wutverzerrtem Gesicht keine Spur mehr des selbstbewussten und wohlerzogenen Schönlings zu erkennen war, als der er sich so gern inszenierte.
Laura hatte genug gesehen und sprang auf, um aus dem Saal zu verschwinden. Niemand schenkte ihr Beachtung. Alle starrten gebannt auf die Szenen im Video, während der Sprecher ungerührt weiterhin die Vorzüge des CEO von Cunningham Enterprises lobte.
Hastig trat sie ins Freie und winkte nach einem Taxi. Es würde nicht lange dauern, dann hätte Vince sich zusammengereimt, wer hinter dem Ganzen steckte. Spätestens, wenn Dave ihm sagte, dass Laura unter den Zuschauern gewesen war. Sie hoffte bloß, dass der Videotechniker nach dem schnellwirkenden Abführmittel in seinem Kaffee nicht allzu sehr leiden musste.
„Lexington Avenue“, sagte sie zu dem Fahrer. „So schnell, es geht, bitte.“
Zehn Minuten später sprang sie aus dem Taxi und eilte in die Eingangshalle des Van-Dyck-Buildings. Mit einem knappen Nicken hastete sie am Concierge vorbei zu einem der beiden Fahrstühle. Ungeduldig beobachtete sie, wie er gemächlich ein Stockwerk nach dem anderen passierte und endlich das Erdgeschoss erreichte. Immer wieder wandte sie den Kopf zurück, um zu sehen, ob ihr jemand folgte.
Als die Tür aufging, wollte sie sofort hineinstürzen. Doch da kam ihr, einer Schildkröte gleich, Mrs. Baxter aus dem fünfzehnten Stock entgegen. Diese hob strafend die Augenbrauen ob Lauras Ungeduld und schob ihren Rollator mit enervierend kleinen und langsamen Schritten durch die Fahrstuhltür.
„Sie scheinen es aber eilig zu haben, Kindchen!“, bemerkte sie kopfschüttelnd. Dann gab sie den Eingang frei.
Mit ihren fahrigen Fingern brauchte Laura ganze drei Versuche, bis es ihr gelang, die Chipkarte durch das Lesegerät zu ziehen. Endlich akzeptierte der renitente Fahrstuhl ihre Zugangsberechtigung für den 43. Stock und setzte sich in Bewegung. Inzwischen verfluchte sie sich selbst dafür, dass sie sich erst so spät losgerissen hatte.
Nun musste sie beten, dass ihr das nicht das Genick brach. Es war ihre absolute Horrorvorstellung, dass Vince sie dabei antraf, wie sie die gemeinsame Wohnung verließ. Er konnte gefährlich werden, wenn er zornig war, und seinen Zorn hatte Laura sich ganz sicher zugezogen. Man musste nur bedenken, welche Auswirkungen ihre heutige Performance auf die Aktienkurse von Cunningham Enterprises haben würde.
Seit Tagen hatte sie ihre persönlichen Sachen so sortiert, dass sie sie heute Morgen blitzschnell hatte packen können. Drei große Koffer und ein paar Taschen warteten darauf, mit ihr gemeinsam das Kapitel „Vince“ zu beenden.
Sie trug das Gepäck zum Eingang und eilte in das Schlafzimmer, in dem sie die meisten Nächte der vergangenen drei Jahre verbracht hatte. Ausgerechnet heute hatte das schlechte Wetter der letzten Tage sich verzogen. Die hoch am Himmel stehende Sonne ließ den Hudson-River wie ein blau-glitzerndes Band erscheinen und brachte die goldene Kuppel des alten Hochhauses vor ihr zum Glänzen.
Wehmütig schweiften ihre Gedanken zu den glücklichen Momenten, die sie hier erlebt hatte. Zu einer Zeit, die sie sich perfekter nicht hätte vorstellen können. Sie erinnerte sich, wie Vince und sie das erste Mal gemeinsam im Wohnzimmer gesessen, den Sonnenuntergang durch die breiten Panoramafenster beobachtet und sich später auf diesem Sofa geliebt hatten.
Plötzlich spielte ihr Handy „Havanna“, die für Vince reservierte Melodie. Sie zuckte zusammen. Verdammt, sie musste hier weg, und zwar so schnell wie möglich. Sie rief den Concierge an und bat ihn, ihr mit dem Gepäck zu helfen. Hastig überflog sie noch einmal die Räume, ob sie etwas Wesentliches vergessen hatte.
Alles konnte sie ohnehin nicht mitnehmen. Allein ihr Kleiderschrank umfasste ein gesamtes Zimmer. Sie brauchte vor allem Ausweise, wichtige Papiere und Kreditkarten. Jäh erkannte sie einen gravierenden Denkfehler. Sie hätte sich Bargeld besorgen sollen, um keine unbedachten Spuren zu hinterlassen. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun konnte. Da fiel ihr der Safe ein, der hinter einer modernen Lithographie an der Wand verborgen war.
Sie entriegelte ihn und schnappte sich die lederne Banktasche, in der Vince immer das Bargeld „für den Notfall“ aufbewahrte und stopfte sie in ihre Handtasche. Im selben Augenblick klingelte es an der Haustür. Kurzerhand versteckte sie den Safe wieder. Nach einem Blick durch den Spion öffnete sie die Tür.
Carl, der Concierge, hob erstaunt die Augenbrauen, als er die Koffer sah.
„Haben Sie eine lange Reise vor?“
„Ach nein“, winkte Laura ab. „Ich wusste nur nicht, was man für einen Urlaub in den Rocky Mountains alles so braucht, und habe sicherlich viel zu viel eingepackt!“ Sie kicherte entschuldigend. „Ich fahre schon mal vor und Mister Cunningham kommt nach. Der Arme muss einfach immer arbeiten!“
Carl nickte verständnisvoll und hob die schweren Taschen auf den Gepäckwagen.
„Wie geht es Chrissy und J.J.?“, erkundigte Laura sich, als sie gemeinsam im Aufzug standen.
Die beiden waren seine Enkel, vier und drei Jahre alt, und sein ganzer Stolz.
„Sehr gut!“, antwortete er und erzählte von ihren Heldentaten. Wenig später hob er die Koffer ins wartende Taxi.
„Danke. Vielen Dank“, sagte Laura zu ihm.
Ein dicker Kloß lag in ihrer Kehle, weil sie nach all der Zeit hier wie eine Verbrecherin verschwand und sich von niemandem verabschieden konnte. Schließlich nickte sie ihm zu und drückte ihm zweihundert Dollar in die Hand.
„Machen Sie es gut.“
Sie bemerkte seine verwirrte Miene, dann fuhr das Taxi an. Noch einmal warf sie einen Blick zurück auf das imposante Gebäude, in dem sie so eine lange Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Da sah sie, wie der schwarze Buick vorfuhr, mit dem Vince sich gewöhnlich chauffieren ließ. Wieder schoss Adrenalin durch ihren Körper.
„Über die Brooklyn Bridge Richtung Coney Island“, änderte sie ihre Fahrtroute, denn es war gut möglich, dass Vince Carl ausquetschen und herausbekommen würde, welche Route sie gefahren war. „Schnell!“
Überrascht blickte der Fahrer in den Rückspiegel, dann zuckte er die Achseln und setzte den Blinker.
Wenig später hörte Lauras Handy gar nicht mehr auf, zu klingeln. Erst Chelsea, dann Savannah, irgendwann riefen alle möglichen Leute an und sprachen besorgt auf ihre Mailbox. Doch Laura war nicht blöd. Vermutlich hatte Vince sie angestiftet, um herauszubekommen, wo sie sich verkroch. Den Gefallen würde sie ihm nicht tun.
Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster des Taxis und sog wie eine Verhungernde die Eindrücke dieser pulsierenden Stadt in sich auf. Die Fahrt in Richtung Brooklyn Bridge, vorbei an der Carnegie Hall, am Times Square und Little Italy fühlte sich an wie ein Abschied für immer. Der Kloß in ihrem Hals wurde größer.
Verwundert bemerkte sie, dass für alle anderen Menschen das Leben weiterging, als wäre nichts gewesen. Sie beobachtete einen Müllmann, der mit stoischer Gelassenheit, ja Langsamkeit, die allgegenwärtigen Hinterlassenschaften der Touristen aufklaubte. Sie sah eine Familie, die mit staunenden Augen am Times Square stand und die gigantische Werbung für das Harry-Potter-Musical betrachtete.
Kurz überlegte sie, was die vier wohl am Big Apple erleben würden. Den Central Park, gewiss. Bestimmt würden sie auch auf eines der berühmten Hochhäuser fahren. Empire State Building oder das One World Trade Center. Und auf einmal wünschte sie sich, wieder mit dieser unbefangenen Unschuld den ersten Blick auf diese unglaubliche Stadt zu werfen. Sie erinnerte sich daran, wie sie selbst mit tellergroßen Augen alles bestaunt hatte. Damals war es, als hätte Vince ihr New York zu Füßen gelegt, nichts war ihm zu teuer. Im Taumel all der fantastischen neuen Eindrücke war sogar die Trauer über den Verlust ihrer Mutter in den Hintergrund gerückt.
Plötzlich wurde sie nach vorne geworfen, als der Taxifahrer heftig in die Eisen stieg, weil eine Gruppe Halbwüchsiger noch schnell vor ihm die Straße hatte überqueren wollen. Er hupte ein paarmal zornig, dann fuhr er weiter, als wäre nichts gewesen. Endlich überquerten sie den Hudson-River. Am Horizont sah sie Schiffe kreuzen.
Schließlich hatten sie Manhattan hinter sich gelassen und fuhren nach Brooklyn hinein. Laura hatte bewusst ein einfaches Hotel ausgewählt, damit sie nicht aus Versehen alten Bekannten über den Weg lief. Vince würde sie hier hoffentlich nicht vermuten.
Dieser untreue Mistkerl. Sie hätte gerne Mäuschen gespielt, als er entdeckte, wem er den Skandal zu verdanken hatte und dass er sich mit der Falschen angelegt hatte. Sie versuchte, sich an ihrer Wut festzuhalten, wie am Mast eines untergehenden Schiffes. Wut machte einen stärker, unangreifbarer. Sie schützte vor den Wogen der Traurigkeit, die wieder heftiger an ihr nagten. Trauer um den Lebenstraum, der nun unweigerlich vorbei war.
Wenn sie bloß wüsste, was sie mit ihrem verkorksten Leben nun anfangen sollte.
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