Liebe, Chaos und Kartoffelsalat – Leseprobe

1

„Ratsch!“ 

Laura unterdrückte einen Aufschrei, während ihre heutige Enthaarungsexpertin ungerührt eine weitere Schicht heißen Wachses auftrug und sich unablässig dem Intimbereich näherte. 

„Tut nicht weh“, versuchte die Frau, sie zu beruhigen, „tut nicht weh.“ 

„Au!“, schrie Laura drei Stellen später auf, weil die Haut am Oberschenkel deutlich empfindlicher war als an den Waden. Allein beim Gedanken an das schmerzhafte Finale traten ihr Schweißperlen auf die Stirn.

Immer wieder betonten alle, dass es von Mal zu Mal weniger schlimm sei. Doch das musste Einbildung sein. Es war bei ihr noch nie besser geworden. Jedes Mal, wenn sie auf der Liege lag und ihr der bedrohliche Geruch nach heißem Wachs in die Nase stieg, fragte sie sich, wieso sie sich das überhaupt antat.

Laura seufzte. Sie wusste, warum. Vince liebte es, wenn ihre Haut zart und glatt war, und wurde nicht müde zu betonen, wie sexy er sie dann fand. Daher gehörte der Besuch ihrer Enthaarungsexpertin, seit sie mit ihm zusammen war, im regelmäßigen Rhythmus dazu. Ein geringfügiger Preis dafür, dass sie ihren persönlichen Traumprinzen gefunden hatte. 

Noch immer konnte sie es kaum fassen, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte, seit sie ihm vor drei Jahren bei einem New-York-Flug und einem schicksalhaften Upgrade in die erste Klasse begegnet war. Manchmal wünschte sie sich, dass die anderen sehen könnten, was aus ihr, Lehramtsstudentin Laura Wildgruber aus der nordrhein-westfälischen Provinz, geworden war.

Nachdem ihre Folterknechtin jedem Einzelnen ihrer störenden Körperhaare auf den Leib gerückt war, trug sie eine beruhigende Salbe auf den geröteten Stellen auf und verabschiedete sich. 

Laura eilte hinüber ins Ankleidezimmer, wo Hannah, ihre persönliche Stylistin, schon auf sie wartete. Das smaragdgrüne Kleid, das sie gemeinsam ausgesucht hatten, hing auf einem Kleiderbügel bereit. Hannah war Lauras Rundum-Sorglos-Programm in Sachen Aussehen. Sie machte ihre Haare, ihr Make-up und suchte stets das perfekte Outfit für jede Gelegenheit aus. Vince hatte vollkommen Recht gehabt. Ohne ihre Hilfe wäre Laura bei einigen gesellschaftlichen Anlässen aufgeschmissen gewesen, da sie sich mit den Gepflogenheiten der New Yorker High Society nicht auskannte. 

Sie setzte sich an den Frisiertisch und schloss die Augen, während ihre Stylistin eine Feuchtigkeitsmaske auftrug und Lauras Haare entwirrte.

„Wohin geht es denn heute?“, erkundigte Hannah sich. 

„Heute sind es nur wir zwei – ins ‚The View“.

„Oh, ein romantisches Date am Valentinstag, wie schön, meine Liebe!“ Routiniert drehte Hannah die Heizwickler in Lauras Haare. 

„Ja, ich freue mich auch sehr.“ In den vergangenen Wochen hatte Vince wenig Zeit für sie gehabt. Heute sollte dafür alles perfekt sein. 

„Wer weiß, vielleicht kommt dann ja die Frage aller Fragen“, sprach die Stylistin aus, was Laura insgeheim hoffte. 

Laura murmelte etwas Nichtssagendes, spürte aber, wie ihr Herz einen erwartungsfrohen Hüpfer machte. Ja, ein romantischer Heiratsantrag vor New Yorks atemberaubender Skyline wäre ganz nach ihrem Geschmack. Seit der Hochzeit ihrer Freundin Chelsea vor ein paar Monaten stellte sie sich vor, wie ihr großer Tag aussehen würde. Wenn es heute tatsächlich auf einen Antrag herauslief, dann hatte sich der mehrstündige Beautymarathon auf jeden Fall gelohnt. Tief in ihrem Inneren sehnte sie sich schon lange danach, endlich und unauflöslich zu ihm zu gehören, hier in New York Wurzeln schlagen zu können. Für dieses Ziel war ihr kein Preis zu hoch.

Sie verabschiedete Hannah und wollte gerade in ihr Kleid schlüpfen, als es an der Tür klingelte. Nach einem Blick durch den Spion erkannte sie Carl, den Concierge, und öffnete nur mit einem Handtuch bekleidet. 

Carl hielt ein Päckchen in der Hand. „Hier, heute für Sie angekommen.“ Er zwinkerte ihr vielsagend zu. „Viel Freude damit!“ 

Pinke Schleife, Schuhschachtelgröße, edle Verpackung. Ob Vince ihr schon etwas zum Valentinstag schickte? 

Sie trug ihr Geschenk ins Wohnzimmer. Was da wohl drin war? Neue Schuhe? Dessous? Sie kicherte. Vince hatte eine besondere Vorliebe für edle Wäsche. Damit hatte er sie von Anfang an überschüttet. 

„Ich habe es gern, wenn ich eine schöne Verpackung aufmachen kann“, sagte er immer. 

Andächtig zog sie an der Seidenschleife und nahm den Deckel ab. Im Karton befanden sich pinkfarbene Marshmallow-Herzen. Ihr Atem stockte, als sie unter den Herzen eine winzige Schachtel entdeckte. Sie hatte genau die richtige Größe für einen Ring. Behutsam entfernte sie das rosenbedruckte Papier und erblickte staunend eine burgunderrote Ringschatulle von Cartier. 

War das seine Art, ihr einen Antrag zu machen? Voller Vorfreude klappte sie die Box auf und starrte den Inhalt an. Was sollte das denn? Wieso trieb er so einen Aufwand, um ihr einen schlichten schwarzen USB-Stick zu schicken? 

Neugierig holte sie ihr MacBook hervor und steckte den Datenträger herein. Nur eine Datei mit kryptischem Namen befand sich darauf. Als sie sie anklickte, startete ein Film. 

Verwundert sah sie, dass er ein Hotelzimmer zeigte, die Kamera auf das Bett gerichtet. Ihre Kehle wurde trocken. Eine innere Stimme riet ihr, sich nicht anzugucken, was gleich zu sehen war. Doch als hätte jemand sie hypnotisiert, war sie unfähig, die Augen von dem Bildschirm zu nehmen. 

Ein Paar erschien, wild knutschend. Der Mann presste die Frau gegen die Wand und zerrte an ihrem Kleid. Bald stand sie nur noch im Stringtanga da, und Laura konnte eine schneewittchenartige Gestalt mit großen Silikonbrüsten erkennen. Sie kam ihr merkwürdig bekannt vor. War das etwa Chrystal? Warum schickte ihr jemand ein Sexvideo einer Frau, die sie lediglich einmal kurz auf einer Hochzeit getroffen hatte, in einer Ringschachtel von Cartier?

Als sich das Paar drehte, verstand Laura, warum. Nun lehnte der Mann an der Wand und schob in einer herrischen Geste Chrystals Kopf nach unten. Schmale Lippen, Stirnlocke, aristokratische Nase. Vince. 

Im Nachhinein wusste Laura nicht, wieso. Doch sie sah sich den Film an. Komplett. Von vorne, über ausgefallene Bettpraktiken, bis zum Schluss, wo er wieder in seine Jeans schlüpfte. Mittlerweile war ihr eiskalt geworden, nackt in ihrem Handtuch. Und sie hatte den Boden unter den Füßen genauso wie ihre eigene Orientierung verloren. 

Minutenlang starrte sie auf den nun schwarzen Bildschirm, während Tränen über ihre Wangen liefen. Genau in dem Moment klingelte ihr Telefon. Wie in Trance nahm sie das Gespräch an. In knappen Worten teilte Vince ihr mit, dass ihm bedauerlicherweise ein dringender Termin dazwischengekommen war, und er bis spät in die Nacht würde arbeiten müssen. 

Fassungslos schmetterte sie das Telefon von sich und rollte sich wie ein Embryo auf dem Teppich zusammen. Wie naiv war sie gewesen, seine Ausreden die ganze Zeit zu glauben! Chelseas Hochzeit war mehr als ein halbes Jahr her. Hatte er sie seitdem betrogen? Sie fühlte sich dumm. So unendlich dumm, naiv und armselig. 

Sie befand sich in einem Sog aus Schock und Verzweiflung. Der Schmerz war so groß, dass sie das Naheliegendste nicht zustande brachte: Vince zur Rede zu stellen. In ihr tobte ein Kampf zwischen der Angst, völlig allein dazustehen und alles zu verlieren, der Wut über seinen Verrat und einem überwältigenden Rachedurst. Diese Pole schienen sich gegenseitig auszubremsen und endeten in Handlungsunfähigkeit. 

Immer wieder ertappte sie sich in den folgenden Tagen dabei, wie sie mitten in einer alltäglichen Handlung innehielt und in einen wilden Gedankenstrudel fiel. Die kreisenden Emotionen verwandelten ihren Körper in Blei, bis sie starr verharrte, bewegungslos, als wäre ihr Geist nicht in der Lage, dem Ende ihres persönlichen Märchens ins Gesicht zu sehen, und versuchte stattdessen, ihr Gehirn lahmzulegen.

Tagelang konnte sie keinen Entschluss fassen, was sie tun sollte, da spielte ihr das Schicksal in die Hände und nahm ihr die Entscheidung ab. Oder war es, besser gesagt, Dave?

Der stand einige Tage später vor der Tür und hielt Laura einen gefütterten braunen Briefumschlag hin. „Der ist für Vince. Top secret. Kannst du ihm den unbedingt sofort geben, wenn er heimkommt?“

Laura nickte und hoffte, dass Dave nicht sah, was mit ihr los war und in welchem Zustand sie sich befand. Doch er war unerwartet freundlich, verkniff sich fiese Bemerkungen zu ihren unfrisierten Haaren und lächelte ihr sogar aufmunternd zu. Ob er längst wusste, was Vince für ein Spiel spielte? Bemitleidete er sie etwa? Seit sie sich kannten, hatte er sie noch nie angelächelt.

Sie schloss die Tür ein wenig zu heftig und drehte den Umschlag in ihren Händen hin und her. Er schien förmlich darum zu betteln, dass sie ihn öffnete, lockte sie mit seinem unförmigen Aussehen. Schließlich hielt sie ihn für ein paar Sekunden über den Wasserkocher, damit ihre Neugierde keine Spuren hinterließ. 

Interessiert hielt sie das Konzept zur Produktvorstellung der neuen Software in der Hand. Nächste Woche würde es so weit sein. 

Seit drei Jahren arbeitete Vince auf diesen Termin hin, mit dem er sich und seine Firma in die Riege der weltweit führenden Softwareunternehmen katapultieren wollte. Immer wieder hielt er ihr minutiös Vorträge darüber, wie er sich die Keynote vorstellte. Dann wanderte er vor ihrem gigantischen Fernseher auf und ab, während sie bewundernd auf der Chaiselongue hockte, und dozierte.

Das ging über Eingangsmusik, bis zur Beleuchtung und der Frage, wann genau Vince auf die Bühne kommen sollte. Sogar das glorreiche (oder kitschige, dies zu beurteilen war Geschmackssache) Video zur Produktpräsentation hatte sie bereits unzählige Male gesehen. Erst wurden die Funktionen der Software vorgestellt und dann wurde detailliert gezeigt, welchen Anteil der grandiose Vincent Cunningham II am Unternehmenserfolg hatte. 

Laura wusste genau, wie sehr er sich auf seinen Moment des Ruhms freute. 

Neben dem Konzept entdeckte sie die Gästeliste und dann in einer quadratischen Hülle eine DVD, auf die jemand mit Post-it eine Nachricht geschrieben hatte: „Fertig, wie besprochen. Einziges Exemplar, damit wir Verwechslungen ausschließen. LG“ 

Wer mochte LG sein? Der Video-Techniker? Laura strich über die silbrig glänzende Scheibe und ihr kam eine teuflische Idee. Als wäre dadurch in ihrem Kopf ein Schalter umgelegt worden, wich die Lethargie der vergangenen Tage einer überschäumenden Energie. Endlich wusste sie, was sie zu tun hatte. 

Wie ein König thronte Vince Cunningham II an seinem Ehrentag auf der Bühne und ließ sich von Branchenkennern und Journalisten feiern. Generös beantwortete er Fragen wie: „Denken Sie, dass Cunningham Enterprises bis zum Jahr 2025 die Konkurrenz überflügelt hat? Wie bewerten Sie die weiteren Wachstumschancen?“ 

Dann erhob er sich von seinem Platz auf dem Podium, den er mit drei anderen Entscheidungsträgern teilte, trat zur Seite und deutete jovial auf die Leinwand hinter sich. 

„Sehen Sie selbst. Machen Sie sich persönlich ein Bild davon, wie Cunningham Enterprises in die Zukunft gehen wird.“ 

Mit siegessicherem Lächeln stand er auf der Bühne und beobachtete die Reaktionen der Zuschauer, als diese gewahr wurden, an was für einem bahnbrechenden Projekt in den letzten Jahren gearbeitet worden war. Die Geheimhaltung hatte funktioniert und kaum etwas war über die neue Software an die Öffentlichkeit gelangt. Das Programm wollte nicht weniger, als die Art, wie die Menschen private und professionelle Videos machten, revolutionieren. Mittlerweile waren viele Fernsehgeräte in der Lage, 3D Bilder auszugeben. Herstellen konnte man sie als Privatperson bislang allerdings noch nicht. Oder nur mit einem derart immensen Aufwand, dass ihn die meisten Nutzer scheuten. 

Nun aber konnten die beeindruckten Zuschauer sehen, wie eine Familie die Kinder beim Spielen filmte und die Oma auf dem anderen Kontinent das Ganze wenig später mit Tränen in den Augen zu Hause ansah. In 3D, mit dem Gefühl, die Enkelkinder beinahe anfassen zu können. 

„Erleben Sie Videoaufnahmen, als wären Sie selbst dabei gewesen. Genießen Sie Erlebnisse mit Ihren Liebsten, wo auch immer sie sein mögen“, erklang die sonore Stimme des Sprechers, der in epischer Breite die Vorzüge des Programmes auswalzte. „Dies alles verdanken Sie einem Mann, der mit seinen bahnbrechenden Visionen eine eigene Firma quasi aus dem Nichts aufgebaut hat.“ 

Dass Vince das lächerliche Vermögen von zweihundert Millionen von seinem Vater geerbt hatte, ließ der Sprecher generös unter den Tisch fallen. 

„Dieser Mann gibt jeden Tag dreihundert Prozent, um die Firma zum Ruhm zu bringen“, fuhr die Stimme fort, während Ausschnitte gezeigt wurden, die Vince bei Präsentationen, am Schreibtisch und beim Austausch mit seinen Mitarbeitern zeigten.

Kopfschüttelnd dachte Laura daran, wie sehr sie ihn bis vor kurzem noch bewundert hatte. Nun erschien er ihr aufgesetzt und eitel mit seinen nach hinten gegeelten Haaren und diesem ständigen Gewinnerlächeln.

Wie einfach es gewesen war, sich in einem unbeobachteten Moment in die Videoregie zu stehlen und die bereitliegende DVD durch eine identisch aussehende auszutauschen. Tja, vielleicht hätte die moderne Softwarefirma doch eher auf einen USB-Stick oder gar einen Stream setzen sollen?

Völlig problemlos hatte sie es auf die Veranstaltung geschafft. Die Sicherheitsvorkehrungen waren lächerlich gewesen. Mit auf die Lippen gelegtem Zeigefinger hatte sie bloß bedeutet, dass sie eine Überraschung für Vince sein wollte. Und was für eine! Sein dämlicher Assistent hatte sie augenrollend durchgewunken. Wenn sich später ein Teil der Katastrophe und des Donnerwetters auf seinem Haupt entladen sollte, sollte es ihr recht sein. Sie hatte ihn noch nie leiden können und das hatte unzweifelhaft auf Gegenseitigkeit beruht. 

„Vincent Cunningham gibt stets sein Bestes, um die Firma zum Erfolg zu bringen“, fuhr der Sprecher fort. 

Auf einmal ging ein Raunen durch die Menge, das mehr und mehr anschwoll. Vince merkte als Letzter, was los war, da er dem Film den Rücken zu kehrte. Plötzlich schoss sein Assistent auf die Bühne und deutete auf die Leinwand. Vince drehte sich um und Laura konnte erst Verwunderung, dann Entsetzen in seinem Körper sehen. Denn genau in diesem Moment stieß der Mann auf dem Video die nackte Frau vor sich auf die Knie, damit sie ihm einen Blowjob gab. Dabei fokussierte die Kamera das erste Mal ungehindert das Gesicht des Protagonisten. Ohne jeden Zweifel handelte es sich um Vince.

Kreidebleich drehte er sich zu der Kabine oberhalb des Zuschauerraums um, in dem sich die Videoregie befand. Eigentlich sollte der Mann, der dort arbeitete, einen guten Blick auf die Bühne haben. Doch niemand reagierte. 

„Aus. Mach den Scheiß sofort aus, du Wichser!“, schrie ein fassungsloser Vincent Cunningham, in dessen wutverzerrtem Gesicht keine Spur mehr des selbstbewussten und wohlerzogenen Schönlings zu erkennen war, als der er sich so gern inszenierte. 

Laura hatte genug gesehen und sprang auf, um aus dem Saal zu verschwinden. Niemand schenkte ihr Beachtung. Alle starrten gebannt auf die Szenen im Video, während der Sprecher ungerührt weiterhin die Vorzüge des CEO von Cunningham Enterprises lobte. 

Hastig trat sie ins Freie und winkte nach einem Taxi. Es würde nicht lange dauern, dann hätte Vince sich zusammengereimt, wer hinter dem Ganzen steckte. Spätestens, wenn Dave ihm sagte, dass Laura unter den Zuschauern gewesen war. Sie hoffte bloß, dass der Videotechniker nach dem schnellwirkenden Abführmittel in seinem Kaffee nicht allzu sehr leiden musste. 

„Lexington Avenue“, sagte sie zu dem Fahrer. „So schnell, es geht, bitte.“

Zehn Minuten später sprang sie aus dem Taxi und eilte in die Eingangshalle des Van-Dyck-Buildings. Mit einem knappen Nicken hastete sie am Concierge vorbei zu einem der beiden Fahrstühle. Ungeduldig beobachtete sie, wie er gemächlich ein Stockwerk nach dem anderen passierte und endlich das Erdgeschoss erreichte. Immer wieder wandte sie den Kopf zurück, um zu sehen, ob ihr jemand folgte. 

Als die Tür aufging, wollte sie sofort hineinstürzen. Doch da kam ihr, einer Schildkröte gleich, Mrs. Baxter aus dem fünfzehnten Stock entgegen. Diese hob strafend die Augenbrauen ob Lauras Ungeduld und schob ihren Rollator mit enervierend kleinen und langsamen Schritten durch die Fahrstuhltür. 

„Sie scheinen es aber eilig zu haben, Kindchen!“, bemerkte sie kopfschüttelnd. Dann gab sie den Eingang frei. 

Mit ihren fahrigen Fingern brauchte Laura ganze drei Versuche, bis es ihr gelang, die Chipkarte durch das Lesegerät zu ziehen. Endlich akzeptierte der renitente Fahrstuhl ihre Zugangsberechtigung für den 43. Stock und setzte sich in Bewegung. Inzwischen verfluchte sie sich selbst dafür, dass sie sich erst so spät losgerissen hatte. 

Nun musste sie beten, dass ihr das nicht das Genick brach. Es war ihre absolute Horrorvorstellung, dass Vince sie dabei antraf, wie sie die gemeinsame Wohnung verließ. Er konnte gefährlich werden, wenn er zornig war, und seinen Zorn hatte Laura sich ganz sicher zugezogen. Man musste nur bedenken, welche Auswirkungen ihre heutige Performance auf die Aktienkurse von Cunningham Enterprises haben würde. 

Seit Tagen hatte sie ihre persönlichen Sachen so sortiert, dass sie sie heute Morgen blitzschnell hatte packen können. Drei große Koffer und ein paar Taschen warteten darauf, mit ihr gemeinsam das Kapitel „Vince“ zu beenden. 

Sie trug das Gepäck zum Eingang und eilte in das Schlafzimmer, in dem sie die meisten Nächte der vergangenen drei Jahre verbracht hatte. Ausgerechnet heute hatte das schlechte Wetter der letzten Tage sich verzogen. Die hoch am Himmel stehende Sonne ließ den Hudson-River wie ein blau-glitzerndes Band erscheinen und brachte die goldene Kuppel des alten Hochhauses vor ihr zum Glänzen. 

Wehmütig schweiften ihre Gedanken zu den glücklichen Momenten, die sie hier erlebt hatte. Zu einer Zeit, die sie sich perfekter nicht hätte vorstellen können. Sie erinnerte sich, wie Vince und sie das erste Mal gemeinsam im Wohnzimmer gesessen, den Sonnenuntergang durch die breiten Panoramafenster beobachtet und sich später auf diesem Sofa geliebt hatten.

Plötzlich spielte ihr Handy „Havanna“, die für Vince reservierte Melodie. Sie zuckte zusammen. Verdammt, sie musste hier weg, und zwar so schnell wie möglich. Sie rief den Concierge an und bat ihn, ihr mit dem Gepäck zu helfen. Hastig überflog sie noch einmal die Räume, ob sie etwas Wesentliches vergessen hatte. 

Alles konnte sie ohnehin nicht mitnehmen. Allein ihr Kleiderschrank umfasste ein gesamtes Zimmer. Sie brauchte vor allem Ausweise, wichtige Papiere und Kreditkarten. Jäh erkannte sie einen gravierenden Denkfehler. Sie hätte sich Bargeld besorgen sollen, um keine unbedachten Spuren zu hinterlassen. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun konnte. Da fiel ihr der Safe ein, der hinter einer modernen Lithographie an der Wand verborgen war. 

Sie entriegelte ihn und schnappte sich die lederne Banktasche, in der Vince immer das Bargeld „für den Notfall“ aufbewahrte und stopfte sie in ihre Handtasche. Im selben Augenblick klingelte es an der Haustür. Kurzerhand versteckte sie den Safe wieder. Nach einem Blick durch den Spion öffnete sie die Tür.

Carl, der Concierge, hob erstaunt die Augenbrauen, als er die Koffer sah. 

„Haben Sie eine lange Reise vor?“ 

„Ach nein“, winkte Laura ab. „Ich wusste nur nicht, was man für einen Urlaub in den Rocky Mountains alles so braucht, und habe sicherlich viel zu viel eingepackt!“ Sie kicherte entschuldigend. „Ich fahre schon mal vor und Mister Cunningham kommt nach. Der Arme muss einfach immer arbeiten!“ 

Carl nickte verständnisvoll und hob die schweren Taschen auf den Gepäckwagen. 

„Wie geht es Chrissy und J.J.?“, erkundigte Laura sich, als sie gemeinsam im Aufzug standen. 

Die beiden waren seine Enkel, vier und drei Jahre alt, und sein ganzer Stolz. 

„Sehr gut!“, antwortete er und erzählte von ihren Heldentaten. Wenig später hob er die Koffer ins wartende Taxi. 

„Danke. Vielen Dank“, sagte Laura zu ihm. 

Ein dicker Kloß lag in ihrer Kehle, weil sie nach all der Zeit hier wie eine Verbrecherin verschwand und sich von niemandem verabschieden konnte. Schließlich nickte sie ihm zu und drückte ihm zweihundert Dollar in die Hand.

 „Machen Sie es gut.“ 

Sie bemerkte seine verwirrte Miene, dann fuhr das Taxi an. Noch einmal warf sie einen Blick zurück auf das imposante Gebäude, in dem sie so eine lange Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Da sah sie, wie der schwarze Buick vorfuhr, mit dem Vince sich gewöhnlich chauffieren ließ. Wieder schoss Adrenalin durch ihren Körper. 

„Über die Brooklyn Bridge Richtung Coney Island“, änderte sie ihre Fahrtroute, denn es war gut möglich, dass Vince Carl ausquetschen und herausbekommen würde, welche Route sie gefahren war. „Schnell!“

Überrascht blickte der Fahrer in den Rückspiegel, dann zuckte er die Achseln und setzte den Blinker. 

Wenig später hörte Lauras Handy gar nicht mehr auf, zu klingeln. Erst Chelsea, dann Savannah, irgendwann riefen alle möglichen Leute an und sprachen besorgt auf ihre Mailbox. Doch Laura war nicht blöd. Vermutlich hatte Vince sie angestiftet, um herauszubekommen, wo sie sich verkroch. Den Gefallen würde sie ihm nicht tun.

Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster des Taxis und sog wie eine Verhungernde die Eindrücke dieser pulsierenden Stadt in sich auf. Die Fahrt in Richtung Brooklyn Bridge, vorbei an der Carnegie Hall, am Times Square und Little Italy fühlte sich an wie ein Abschied für immer. Der Kloß in ihrem Hals wurde größer.

Verwundert bemerkte sie, dass für alle anderen Menschen das Leben weiterging, als wäre nichts gewesen. Sie beobachtete einen Müllmann, der mit stoischer Gelassenheit, ja Langsamkeit, die allgegenwärtigen Hinterlassenschaften der Touristen aufklaubte. Sie sah eine Familie, die mit staunenden Augen am Times Square stand und die gigantische Werbung für das Harry-Potter-Musical betrachtete.

Kurz überlegte sie, was die vier wohl am Big Apple erleben würden. Den Central Park, gewiss. Bestimmt würden sie auch auf eines der berühmten Hochhäuser fahren. Empire State Building oder das One World Trade Center. Und auf einmal wünschte sie sich, wieder mit dieser unbefangenen Unschuld den ersten Blick auf diese unglaubliche Stadt zu werfen. Sie erinnerte sich daran, wie sie selbst mit tellergroßen Augen alles bestaunt hatte. Damals war es, als hätte Vince ihr New York zu Füßen gelegt, nichts war ihm zu teuer. Im Taumel all der fantastischen neuen Eindrücke war sogar die Trauer über den Verlust ihrer Mutter in den Hintergrund gerückt. 

Plötzlich wurde sie nach vorne geworfen, als der Taxifahrer heftig in die Eisen stieg, weil eine Gruppe Halbwüchsiger noch schnell vor ihm die Straße hatte überqueren wollen. Er hupte ein paarmal zornig, dann fuhr er weiter, als wäre nichts gewesen. Endlich überquerten sie den Hudson-River. Am Horizont sah sie Schiffe kreuzen. 

Schließlich hatten sie Manhattan hinter sich gelassen und fuhren nach Brooklyn hinein. Laura hatte bewusst ein einfaches Hotel ausgewählt, damit sie nicht aus Versehen alten Bekannten über den Weg lief. Vince würde sie hier hoffentlich nicht vermuten.

Dieser untreue Mistkerl. Sie hätte gerne Mäuschen gespielt, als er entdeckte, wem er den Skandal zu verdanken hatte und dass er sich mit der Falschen angelegt hatte. Sie versuchte, sich an ihrer Wut festzuhalten, wie am Mast eines untergehenden Schiffes. Wut machte einen stärker, unangreifbarer. Sie schützte vor den Wogen der Traurigkeit, die wieder heftiger an ihr nagten. Trauer um den Lebenstraum, der nun unweigerlich vorbei war. 

Wenn sie bloß wüsste, was sie mit ihrem verkorksten Leben nun anfangen sollte.

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Neues Interview mit mir!

Zu meinem neuen Weihnachtsroman „Fake Dates and Rockstar Kisses – eine Christmas Romance voller Überraschungen“ gibt es ein Interview auf der Seite von Digital Publishers. Falls es jemand lesen möchte: Hier geht es lang!

Eis

Hier mein Beitrag zum diesjährigen Autorenadventskalender. Dies ist eine kleine Geschichte, die ich zum Start einer Fantasyidee geschrieben habe, also mal ein etwas anderes Genre. Was sagt ihr dazu?

Kalt. Das ist ihr erster Gedanke, als sie zu sich kommt. Eiskalt. Wie eine Schraubzwinge lähmt die Kälte in ihrem Körper. Kaum kann sie ihre Gliedmaßen bewegen. Undeutlich fokussieren ihre Pupillen schneebedeckte Tannen. Doch schon das Öffnen der Augen bedeutet eine immense Kraftanstrengung. Ihre Lider flackern, dann schließen sie sich. Sie ist erschöpft. Sie braucht Ruhe, lässt sich zurücksinken, bis die Schwärze sie fast vollständig umschließt. Nur ein kleiner Gedanke bohrt sich in ihr Sein. Wenn du jetzt einschläfst, wirst du nie wieder erwachen. 

Beinahe findet sie diesen Gedanken in Ordnung, attraktiv. Aber nein. Sie will noch nicht gehen. Will doch nicht aufgeben, auch wenn das Kämpfen mit Schmerzen verbunden sein wird. Mit mehr Schmerzen, als sie aushalten kann. Sie klammert sich an den letzten Funken Leben. Zieht sich an ihm hoch wie an einem Seil. Hinaus aus dem Brunnen des Vergessens. Mit letzter Kraft öffnet sie die Augenlider noch einmal. Eine schier unmenschliche Anstrengung. 

Da blickt sie in das alte, unsinnige Gesicht einer Eule. Doch halt. Dieser Gedanke ist falsch. Die Eule ist keine Eule, sondern eine Frau. Älter als sie je eine gesehen hat. Mit derart buschigen Augenbrauen und einer schnabelähnlichen Nase, dass ihr die Verwechslung niemand übel nehmen kann. Die Eule sagt etwas, doch ihre Stimme ist nur ein Rauschen, schafft es nicht bis in ihr Gehirn. Sie rüttelt an ihren Schultern und schreit, versucht, sie auf die Füße zu ziehen. 

„Schnell!“, kreischt sie. Das Mädchen wundert sich, dass sie sie plötzlich doch hört. „Aufstehen. Gefährlich.“ 

Hektisch rotieren die knopfartigen Augen der Alten hin und her. So wild, dass das Mädchen den Kopf hebt, um zu sehen, was sie sieht. 

Eine donnernde, stampfende graue Masse kommt direkt auf sie zu. Der Anblick der Reiterbrigade in silbernen Rüstungen jagt unerwartet Adrenalin durch ihre Adern. Plötzlich steht ihr erfrorener Körper in Flammen. Sie springt auf. Starrt den Reitern entgegen wie ein Reh in die Augen des Jägers. 

Erst als ihr ein rauer Stoff um die Schultern gelegt wird, bemerkt sie, dass sie nackt ist. Splitterfasernackt. Sie schaut an sich herunter. Auch keine Schuhe. Die alte Frau zehrt an ihr. „Schnell! Hier bist du nicht sicher!“ 

Endlich lässt das Mädchen sich mitziehen. Ringsherum ist nichts als Schnee. Eine menschliche Behausung ist nicht zu erkennen. Sie stolpert hastig den Weg entlang. Doch das Donnern kommt näher. 

„Los!“, drängt die Frau. 

Das Mädchen versteht die Dringlichkeit. Aber ihre empfindlichen Füße kommen nicht gut voran auf dem eisigen Untergrund. Sie ist langsam. Schließlich rutscht sie aus und stürzt. Die Hand der Eule entgleitet ihr. Ein bedauernder Blick. Das Mädchen ist verloren. Dann hastet die Frau allein weiter. Viel schneller, als es mit ihren uralten Beinen möglich sein sollte. 

Todesangst ist ansteckend. Das Mädchen rappelt sich hoch, rennt, so schnell, wie sie ihr Leben lang noch nie gerannt ist, macht kostbare Meter gut. Vergessen die Tatsache, dass der eisige Boden sich schmerzhaft in die nackten Füße bohrt. Kaum mehr nimmt sie wahr, dass an der Wurzel einer großen Kiefer der Nagel halb abreißt.

„Anhalten, wenn dir dein Leben lieb ist“, befielt plötzlich eine barsche Stimme hinter ihr. Fünf Silbergestalten kreisen sie ein. Wuchtige Kerle, die Gesichter verzerrt durch den Nasenschutz der Helme, auf gigantischen Rappen, aus deren Nüstern Rauch zu kommen scheint. Die Männer starren sie regungslos an. Sie ist froh über die Decke, die die alte Frau ihr gegeben hat. Fest zieht sie sie zu, damit niemand ihre Blöße sieht. 

Auf ein Kommando des Mannes zu ihrer Linken ziehen alle gleichzeitig ihre langen Schwerter aus der Scheide. Das scharrende Geräusch dröhnt in ihren Ohren, verursacht ihr eine Gänsehaut. Sie richten die Schwerter so auf sie, dass ihr nur ein winziges bisschen Bewegungsfreiheit bleibt. Merkwürdigerweise verspürt sie kaum Angst. Das Ganze ist derart irreal, dass sie sich in einem Traum wähnt. 

„Seht mal, wen wir hier noch haben!“ Ein Mann in einer altmodischen Lederkluft hat der alten Frau ein Messer an den Hals gelegt und schiebt sich vor sich her. Er stößt sie in die Mitte, wo sie nur um Haaresbreite die gefährliche Schneide zweier Schwerter verfehlt, auf den Boden sackt wie ein Bündel Lumpen und sich nicht mehr rührt.

„Wenn das nicht schon wieder die alte Adelaide ist“, brummt der Anführer. „Wie kommt es, dass, wann immer eine blanke Jungfer gefunden wird, du mit deiner Visage nicht weit bist? Vielleicht soll ich es doch noch einmal mit der Streckbank versuchen, um aus dir herauszubekommen, was für Aufgaben die Rote Königin dir anvertraut hat!“ 

Die alte Frau schweigt und rührt sich nicht. 

In diesem Moment ist dem Mächen alles klar. Erleichterung durchströmt ihre Adern. Das hier ist irgendein bescheuertes Live-Action-Theater, das ihre Eltern angezettelt haben, um ihr den schlimmsten Drogentrip ihres Lebens zu bescheren. 

Sie erinnert sich genau an die Drohung ihrer Mutter. „Noch einmal. Nur noch einmal machst du so einen Scheiß, dann sperre ich dich ein, bis du deine Lektion gelernt hast und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“ 

Abschätzig blickt sie den Anführer an. Wie gut, dass sie auf die Spielchen ihrer Mutter schon lange nicht mehr hereinfällt. „Du kannst meiner Mutter sagen, dass ich ihr diese Nummer nicht abkaufe. Und jetzt nimm das Schwert von meinem Hals, bevor ihr dir meinen Anwalt auf den Leib hetzte.“ 

Ein Ausdruck leichter Verwunderung erschien in den kalten Augen ihres Gegenübers.

‚Tja, so ein guter Schauspieler bist du eben doch nicht‘, denkt sie, als die beobachtet, wie er seinen Mitspielern einen Wink gibt, um das Theater zu beenden. 

Da steht plötzlich ein bärtiger Mann vor ihr und verpasst ihr eine schallende Ohrfeige, die sie neben die immer noch reglos daliegende Frau in den Schnee katapultiert. 

„Nicht bewegen und nichts sagen“, raunt diese ihr kaum hörbar zu, als sie auf der kalten Erde liegt und darauf wartet, dass die Welt aufhört, um sie herum Samba zu tanzen.

(…)

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Die perfekte Aufnahme

Wenn die Delfine kommen, wird es ein perfektes Foto, das erwartet Amber, die Protagonistin meines neuesten Werks. Allerdings hat sie da nicht mit ihrer Hundephobie gerechnet…

Lest hier exklusiv und als Teil des großartigen Autoren-Adventskalenders diesen Ausschnitt aus einem Miami-Beach-Roman, an dem ich gerade arbeite. Viel Spaß!

„Perfekt, bleib so, gleich ist es so weit!“ 

Lasziv räkelte sich SandraDee, Miamis derzeit erfolgreichste Influencerin, auf den Uferfelsen am South Pointe Park. Vorsichtig balancierte Amber ihr Stativ auf der unebenen Oberfläche, um sie aus dem günstigsten Winkel zu abzulichten. Sie hatte diesen Job von einem Kollegen übernommen und plante, ihn bestmöglich abzuliefern, damit er ihr Zugang zu weiteren Aufträgen der hippsten Instagrammer Floridas bringen würde. Glücklicherweise gab es in Miami mehr Influencer, die Fotos brauchten, als Sandkörner am South Beach. 

Die Felsen, auf denen sie stand, boten ihr nur bedingt Halt, so dass Ambers Lendenwirbel bald von der gekrümmten Haltung schmerzten. Wenn das Licht der tief stehenden Sonne nicht von dieser Position aus ideal gewesen wäre, hätte sie sich viel lieber wie ihre Assistentin auf dem schmalen Gehweg positioniert. Die hielt dafür unverdrossen die Reflektorfolie neben SandraDees Gesicht, auch wenn die Arme auch ihr längst schmerzen mussten.

Doch den Preis für die unbequemste Pose gewann auf jeden Fall die Influencerin selbst. Dennoch ruhte sie auf den spitzen Steinen wie eine Königin auf einem Federbett und schleckte entspannt lächelnd an der brandneuen Eissorte ihres Werbepartners. Vermutlich war sie in einem früheren Leben ein Fakir gewesen. Auf jeden Fall war sie hart im Nehmen, denn auch der scharfe Märzwind, der dazu führte, dass Amber ihre Jacke enger um sich zog, schien sie in ihrem knappen Bikini nicht im Geringsten zu stören. Momentan war es ungewöhnlich kalt im immerwarmen Miami. So etwas wie einen Pullover brauchte man hier normalerweise höchstens für die künstlich unterkühlten Innenräume.

SandraDee gab selbstredend alles für ihre Follower und war dabei die Perfektion in Person. Amber feuerte eine Fotosalve auf ihr Model, das wechselseitig den Kopf in die eine oder andere Richtung drehte, die Augen genießerisch verschloss, weil das Eis offenbar so wohl schmeckend war, und zwischendrin immer wieder einen Kussmund zog. 

Schwatzend blieb eine Gruppe junger Mädchen stehen und deuteten die Szenerie. SandraDee war ganz Profi und grinste ihnen nonchalant zu.

„Achtung, nur noch ein paar Sekunden!“, warnte Amber sie, denn die majestätische „Wonders of the Seas“, auf die sie gewartet hatten, schob sich allmählich mit ihrem wie ein Wal geschwungenen weißen Bug in das Bild. Die Abfahrt der Kreuzfahrtschiffe war stets ein gern genommenes Fotomotiv und Amber hatte schon diverse Shootings hier gehabt. Zu ihrer Zufriedenheit entdeckte sie eine Gruppe Delfine, die das schwimmende Schiff begleitete und sich gegenseitig zu immer höheren Sprüngen anstachelte. Perfekt, genau darauf hatte sie gehofft. Das Bild würde fantastisch werden.

 „Buddy, aus!“, rief plötzlich eine schrille Stimme hinter ihr, gefolgt von einem aufgeregten Kläffen. 

Amber wandte sich um und wusste wieder, warum sie so ungern in einen Park ging. Ihr Herz pochte so stark, dass es ihren Brustkorb zu sprengen schien, und ihre Hände wurden feucht. Sie hatte panische Angst vor Hunden, seit sie als kleines Mädchen gebissen worden war. Die Narbe auf ihrer rechten Wade erinnerte immer noch an dieses furchterregende Erlebnis. 

Wild bellend schoss eines dieser Monster auf sie zu, die nutzlos gewordene Leine hinter sich herziehend. Amber war wie gefangen in einer Mischung aus Fluchtinstinkt und Erstarrung und konnte bloß regungslos beobachten, wie die mittelgroße, schwarze Bestie zielstrebig ihre Auftraggeberin angriff. 

„Vorsicht!“, schrie sie entsetzt auf. 

SandraDee riss erstaunt die Augen auf, lachte aber bloß, als der Hund auf ihren Bauch sprang und ihr frech das Eis aus der Hand stahl. Doch damit nicht genug, entschied der Köter sich zur Flucht in Ambers Richtung. Panisch wich sie zurück, hatte für einen Moment vergessen, dass sie sich nicht auf ebenem Boden befand, sonder auf Uferfelsen balancierte. Da verlor sie schon das Gleichgewicht und stürzte mitsamt ihrer Ausrüstung ins Wasser. 

Ein paar Minuten später stand Amber triefnass und bibbernd vor den Überresten ihrer sündhaft teuren Kamera und konnte immer noch nicht recht verstehen, was geschehen war. Die Schmerzen an ihrem Po und Rücken zeugten allerdings davon, dass sie auf dem Weg ins Wasser zunächst auf den Steinen aufgeprallt war. 

In der Hoffnung, womöglich etwas an der Kamera oder den Fotos zu retten, entfernte sie hastig den Akku und die Speicherkarte aus dem Gerät. Viel erwartete sie jedoch nicht. Meerwasser war für Elektronik oft ein echter Killer. 

„Entschuldigung. Buddy ist einfach verrückt nach Eis. Es tut mir sehr leid!“ 

Mit zerknirschter Miene stand die Besitzerin des Hundes neben ihr. Immerhin hatte sie die Leine wieder fest in der Hand, während das Tier scheinbar nicht minder zerknirscht die Schnauze auf den Boden gelegt hatte und sein Frauchen treuherzig anblickte. Amber dagegen ließ sich von diesem harmlosen Blick nicht täuschen. Tiere waren einfach unberechenbar.

Kopfschüttelnd starrte sie die Frau an, die ihre mangelnde Größe mit schreiend bunter Kleidung wettmachte, und fragte sich ein ums andere Mal, wieso sich Menschen ein Tier anschafften, dass sie nicht unter Kontrolle hatten. 

„Kann ich Ihnen noch etwas helfen? Brauchen Sie vielleicht ein paar Taschentücher? Ich bin gut versichert“, versuchte die Hundebesitzerin es erneut. 

Amber schüttelte stumm den Kopf. 

Doch die Frau trat auf sie zu und drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. „Mary’s Tierparadies“ stand drauf. 

„Ich habe einen kleinen Laden für Haustierzubehör. Ich bin wirklich gut versichert, weil die süßen Racker“ hier kicherte sie aufgekratzt, „gern einmal den einen oder anderen Unfug anstellen. Haben Sie ein Haustier?“

Ambers Augen weiteten sich ob dieser absurden Vorstellung. Ihre Eltern hatten damals nach dem Biss einen winzigen, knopfäugigen Welpen zum Geburtstag geschenkt, weil sie hofften, dass Amber auf diese Weise ihre Panik vor Hunden wieder loswerden würde. Doch weit gefehlt. Kaum hatte sie das Tier erblickt, hörte sie nicht mehr auf zu schreien, bis sie das Ungeheuer endlich aus der Wohnung gebracht hatten.

„Nein, ganz sicher nicht!“, entgegnete Amber.

„Nun, dann melden sie sich einfach bei mir und ich schalte meine Versicherung ein.“ 

Um die Frau endlich loszuwerden, nickte Amber und steckte die Karte ein, die sie sicher nie brauchen würde. Ihre Ausrüstung war gut versichert, das war nicht das Problem. Eher die Tatsache, dass sie einen wichtigen Auftrag buchstäblich ins Wasser gesetzt hatte. Frühestens in ein paar Tagen konnte sie überprüfen, ob die Speicherkarte noch funktionierte. Bis dahin hätte aber SandraDees Werbebeitrag bereits gelaufen sein sollen. 

„Wenn eines der Bilder etwas geworden ist, melde ich mich“, sagte sie ohne große Erwartungen zu SandraDee. „Ich borge mir bis morgen eine andere Kamera. Wann sollen wir das Shooting wiederholen?“

Die Influencerin schnaubte herablassend. „Gar nicht. Ich finde einen Fotografen, der nicht wegen eines Schoßhündchens ins Wasser fällt. Meine Zeit ist kostbar.“

Missmutig räumte Amber zusammen mit ihrer Assistentin, die vor Schreck komplett verstummt war, die Überreste ihrer Ausrüstung in die Taschen. Sie brauchte weder auf einen weiteren Auftrag, noch auf eine Empfehlung von ihrer Kundin zu hoffen. 

SandraDee dagegen beugte sich zu Ambers Ärger zu der Straßenkötermischung herunter, der mittlerweile wieder ordnungsgemäß an der Leine war, und kraulte ihm den Nacken. 

„Du bist ja ein ganz feiner.“ Eifriges Schwanzwedeln war die Antwort. „Hat dir mein Eis geschmeckt? Ja?“ Für einen Moment schien sie den verdorbenen Tag völlig vergessen zu haben. „So einen wie dich, hatte ich früher auch, wie alt ist er denn?“, erkundigte sie sich bei der Besitzerin. 

Amber vernahm schon nicht mehr die Antwort, als sie gefolgt von ihrer Assistentin hinüber zu ihrem Fahrrad stakste und eine Spur aus Pfützen hinter sich herzog. Sie überlegte, wie sie ihrem Kollegen ihren misslungenen Gig erklären sollte. Der wäre sicher nicht glücklich über eine erboste Kundin. 

Sie musste ihre Hundepanik in den Griff kriegen, wenn sie weiterhin draußen fotografieren wollte. Hunde aller Rassen und Größen waren am Ocean Drive nahezu allgegenwärtig. Bereits ihre Eltern hatten nichts unversucht gelassen, Amber die Angst wieder auszutreiben, aber nichts hatte gefruchtet. Sogar eine Angsttherapie war erfolglos geblieben. Vielleicht sollte sie doch wieder Hochzeiten fotografieren. Allerdings hatte sich das Gefühl, masochistisch veranlagt sein zu müssen, wenn sie weiterhin in die hoffnungsvollen Gesichter der frisch Vermählten blicken musste. Nach allem, was im vergangenen Jahr mit Gary passiert war, stand ihr nach Romantik überhaupt nicht der Sinn. 

„Wir machen Schluss für heute, danke dir“, verabschiedete sie sich von ihrer Assistentin, die ihr nur noch bedauernd zunickte und erleichtert verschwand. 

Überrascht merkte Amber, dass das Handy in ihrer Hosentasche vibrierte, als wäre es nicht eben gerade auf Tauchkurs gegangen. Sie zog das glitschige Teil aus der Tasche, das sie in der Angst um ihre Fotos ganz vergessen hatte, und sah die Nummer von ihrem Hotel. Allerdings war es nicht der erste Anruf. Vermutlich hatte sie die Versuche davor im Schreck gar nicht bemerkt. Sieben Mal hatten sie es bereits bei ihr probiert. Amber wurde flau im Magen. War etwas passiert? 

Normalerweise ließen die Mitarbeiter des Hotels, dass sie von ihrer Mutter geerbt hatte, sie mit den alltäglichen Belangen in Ruhe. Nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter hatte die vorher so heimische Atmosphäre sie so stark bedrückt, dass sie auf Distanz gegangen war. Glücklicherweise war das „Elisabeth’s“, ein für die Verhältnisse in Miami Beach kleines Boutiquehotel, ein gut laufender Betrieb, für den sie lediglich eine Geschäftsführerin hatte finden müssen. Das Geld, das es abwarf, ermöglichte es ihr, sich verhältnismäßig sorgenfrei ihrem Wunschberuf, der Fotografie, zu widmen. 

„Amber, kannst du vorbeikommen?“, vernahm sie die Stimme von Gloria, der Front Desk Managerin, die Amber bereits seit ihrer Geburt kannte. „Es ist etwas passiert. Das solltest du dir ansehen.“ 

Eine üble Vorahnung schlich über ihren Rücken. Glorias Stimme klang fast so panisch wie an dem Tag, als sie sie angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass Ambers Mutter bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war.

Der rote Traktor

Jordan verbringt den Weihnachtsabend unverhofft mit Kates Familie und erinnert sich an ein besonders einprägsames Erlebnis aus seiner Kindheit. Wobei es in dieser Familie mehr Geheimnisse gibt, als bloß die Frage, welches Geschenk zuerst ausgepackt wird …

Lest hier exklusiv und als Teil des großartigen Autoren-Adventskalenders diesen Ausschnitt aus einem Weihnachtsroman, an dem ich gerade arbeite. Viel Spaß und frohe Weihnachten!

Das Zimmer, das sie nun betraten, wirkte, als hätte es jemand direkt aus einem Magazin für Interior Design kopiert. Thema: Weihnachtskitsch vom Feinsten. Die opulenten roten Plüschsofas und die goldumrandeten Lehnstühle schienen nur für einen Zweck hier im Haus zu existieren: um an Weihnachten ihren großen Auftritt zu haben. Die Sitzmöbel gingen eine derart perfekte Liaison mit der restlichen Festdekoration ein, dass er den Verdacht hatte, sie lagerten das ganze Jahr über auf dem Dachboden. Dann, wenn das Haus festlich geschmückt wurde, holte man sie raus und tat so, als würde man ständig mit dieser schweren Pracht leben. 

Allerdings: So beeindruckend die Häuser seiner reichen Freunde an Weihnachten auch eingerichtet waren, dieses hier war irgendwie authentischer. An der sicher mehr als drei Meter hohen Tanne funkelten Weihnachtsantiquitäten um die Wette. Ob die früheren Besitzer des Hauses diese exklusiv aus England hatten kommen lassen? Vorstellbar wäre es. Der Baum hätte auch schon zu Charles Dickens Zeiten genau so aussehen können, bis auf die künstlichern Kerzen jedenfalls.

Bei diesen wilden Kindern hätte mit echten Kerzen auch jederzeit das Haus abgefackelt werden können. Die wertvollen Einrichtungsgegenstände interessierten die Racker nämlich kein Bisschen. Sie tobten ausgelassen zwischen den Erwachsenen herum, die die lieben Kleinen nachsichtig beobachteten. 

Kates Brüder winkten ihm freundlich zu, als Kate und er wieder hineinkamen. Sie war schweigsam, in sich gekehrt. Was war eben geschehen? Über was hatten Drake und sie sich gestritten? Ging es wirklich bloß darum, dass der Vater sich für seinen Sohn einsetzte und die Ex-Freundin zur Rede stellte? Irgendwie passte das nicht zu dem hungrigen Blick, den Drake Kate zuwarf, wann immer er sie zu Gesicht bekam. Langsam manifestierte sich in seinem Kopf ein seltsamer Verdacht. 

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Jordan sie leise. 

Sie nickte, sah ihm aber nicht in die Augen. 

„Bist du dir sicher?“ Eindringlich legte er ihr die Hand auf den Arm.

Kate schluckte. „Kannst du mich für einen Moment entschuldigen? Ich muss mit meiner Mutter sprechen.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, stob sie davon. Verwundert blickte er sich nach. Was wollte sie vor ihm verbergen?

In diesem Moment erreichte die Aufregung der Kinder ihren Höhepunkt. 

„Der Weihnachtsmann kommt! Der Weihnachtsmann kommt!“, schrien sie aufgeregt. Allerdings bezweifelte Jordan stark, dass die Zwillinge wirklich noch an den Weihnachtsmann glaubten. 

Vermutlich wollten sie die jüngeren Kinder anstacheln. Magischerweise dimmte sich das Licht, bis der Raum nur noch durch das flackernde Feuer im Kamin und die LEDs am Weihnachtsbaum beleuchtet wurde. Ein Mann in rotem Mantel und mit weißem Bart zwängte sich durch die Erwachsenen, die höflich ihre Gespräche einstellten und an Champagnergläsern nippten. Er setzte sich auf den Sessel, der direkt neben dem Baum stand, legte seinen Sack ab und putzte die runden Brillengläser, die sich durch die Kälte draußen beschlagen hatten. Jordan überlegte, ob das Gesicht zu einem der Erwachsenen gehörte, die er in den letzten Stunden kennengelernt hatte, doch es schien ihm nicht so zu sein. Vielleicht war es ein Nachbar oder auch ein professioneller Weihnachtsmann. 

Der unterhielt sich mit den Kindern, sprach darüber, ob sie brav gewesen waren oder nicht und überreichte jedem Kind ein gigantisches Paket. 

Heute durfte nur ein Geschenk ausgepackt werden. Der Rest würde traditionell am nächsten Morgen unter dem Weihnachtsbaum liegen. Einer der Zwillinge war am schnellsten. Er packte sein Geschenk als erstes aus, stellte fest, dass es eine Spielekonsole beinhaltete, und warf es achtlos in die Ecke. Dann ging er mit anklagender Miene zu seiner Mutter, die ihn in Abwehrhaltung ansah. 

„Was ist denn, mein Lieber?“, fragte sie. 

„Das ist eine X-Box und keine Playstation!“, beschwerte er sich. 

Ihre Augen wanderten unsicher durch den Raum. „Aber Anton, du hast dir doch eine Spielekonsole gewünscht!“

„Ja“, knurrte der Junge, „aber das ist die falsche! Ich habe ganz sicher Playstation auf den Wunschzettel geschrieben!“ 

Der Mutter war das Ganze sichtbar unangenehm. Zwei Frauen, die in der Nähe standen, hoben fragend ihre Augenbrauen. Hastig zog sie ihren Sohn mit nach draußen. 

Jordan verfolgte diese Szene und dachte daran, wie sehr er sich als Kind danach gesehnt hatte, ein einziges Mal ein richtiges Geschenk zu bekommen, nicht bloß Socken und Unterhosen. Er musste etwas jünger als die Zwillinge gewesen sein, als ihm das schlimmste Weihnachten seines Lebens passiert war. Zu der Zeit war er noch zu klein gewesen, um zu verstehen, wie bösartig sein Pflegevater war.

Verheißungsvoll hatte das Paket ausgesehen, das als Letztes unter dem geschmückten Baum übrig geblieben war, und sein Herz hatte einen Sprung gemacht. Die anderen Kinder, allen voran natürlich Papa Logans echte Kinder, Chloe und Willy hatten bereits ihrer Pakete ausgepackt. Willy hatte über seinen nagelneuen Baseballschläger gestrahlt, Chloe glücklich die Barbie in das dazu passende Auto gesetzt. Tyler hatte mit einem höflichen Lächeln die üblichen Socken und Unterhosen in Empfang genommen, mit denen die Mastersons in der Regel ihre Pflegekinder bedachten. Das wenige Geld, das zur Verfügung stand, wurde stets gerecht zwischen den beiden leiblichen Kindern aufgeteilt. Die Pflegekinder trugen die ausrangierten Sachen der anderen weiter und bekamen, wenn schon etwas geschenkt werden musste, etwas Praktisches, das man ohnehin brauchte. 

Doch das Paket, das noch unter dem schiefgewachsenen Baum stand, dessen geringe Größe, durch ein Tischchen erhöht wurde, war nicht weich, wie Geschenke waren, die Kleidungsstücke enthielten. Nein, es hatte genau die richtige Form, in der ein Auto oder ein Bagger stecken könnte, wie er es sich seit Ewigkeiten wünschte. 

Er sah sich schon zu dem Weiher gehen, an dem die Kinder des Viertels auf einem Hügel mit ihren Fahrzeugen spielten. Bedächtig nahm er das Paket an sich und bemerkte nicht den Blick, mit dem Papa Logan ihn beobachtete. Auch Willy ließ ihn nicht aus den Augen. Denn er war es gewöhnt, dass alles, was nach Spielzeug in diesem Haushalt aussah, ihm gehörte. Dass ein attraktiv aussehendes Weihnachtsgeschenk für Jordan sein konnte, ging ihm sichtbar gegen den Strich. Protestieren sah er seinen Vater an, der begütigend die Hand hob und an der obligatorischen Bierflasche nuckelte. Sicher schon sechs oder sieben hatte er nachlässig auf den Boden neben dem Ohrensessel abgestellt, in dem er seine Abende verbrachte.

Gleich würden die Kinder eilig die Flaschen einsammeln und in die Küche bringen. Es gab Dinge, die man in diesem Haushalt sehr schnell lernte, wenn man nicht ständig eine Tracht Prügel oder, noch viel schlimmer, eine gefühlte Ewigkeit in der Grube unter dem Haus kassieren wollte. Die war einst als Vorratskeller angelegt worden und mittlerweile nur noch dafür da war, ungehorsame Kinder einzusperren. 

Papa Logans Augen waren schon leicht glasig und Jordan entging in der Vorfreude auf sein Weihnachtsgeschenk fatalerweise die Tatsache, dass sie bereits wieder ein bösartiges Glitzern in sich trugen. Meist war er so klug, sich dünn zu machen, wenn er dieses Glitzern in den Augen seines Pflegevaters entdeckte. Auf keinen Fall wollte er in der Schusslinie sein, wenn dieser mal wieder ein Opfer für seinen Frust suchte.

Denn wenn das geschah, dann sah auch Brenda, seine Frau, zu, dass sie nicht auffindbar war. Niemand würde ihm, Jordan, helfen. Doch arglos nahm er das Paket, öffnete es, fühlte die Umrisse eines Traktors und ließ es dann enttäuscht fallen. Das vermeintlich nagelneue Spielzeug war bereits kaputt. Zwei Reifen fehlten, mit einem Edding hatte jemand auf dem Traktor herumgekritzelt. Es war genau der Traktor, den sich Jordan gewünscht hatte. Das stimmte. Er hatte ihn sich gewünscht, während dieser ungenutzt in Wills Regal gestanden hatte. Doch in dem Moment, wo Willy festgestellt hatte, dass Jordan ihn gerne hätte, hatte er ihm die Reifen abgebrochen und mit Edding auf das Fahrzeug gekritzelt. 

Als sein Pflegebruder sah, was Jordan da geschenkt bekam, fing er an zu lachen. 

„Hör auf, zu lachen!“, schrie Jordan. Dann vergaß er alle Vorsicht und stürzte sich auf ihn. Willy, überrascht von der ungewohnten Aggressivität des Jüngeren, taumelte zurück und stieß neben das Beistelltischchen, auf dem Papa Logan gerade eine Flasche abgestellt hatte. Fatalerweise fiel sie um und ergoss sich auf den Boden. 

Wie ein Rächer aus der Hölle erhob der Koloss sich aus seinem Sessel. Jordan kassierte die Prügel seines Lebens und verbrachte die Weihnachtsnacht im dunklen Keller. Nie wieder, werde ich mir etwas zu Weihnachten wünschen, schwor sich Jordan in dieser Nacht.

„Sie sehen so traurig aus. Vermissen Sie Ihre Familie?“ Eine sanfte Stimme riss ihn aus seinen Erinnerungen.

Liebe, Chaos und Kartoffelsalat

In meinem Buch „Liebe, Chaos und Kartoffelsalat“ geht es ums Scheitern und Wiederaufstehen. Darum, dass eine vermeintliche Katastrophe letztlich ein Glückfall sein kann. 

So erlebt es Laura, meine Protagonistin. Nach dem Tod ihrer Mutter lässt sie alles hinter sich, um nach New York zu gehen. Dort lebt sie dank ihres Traumprinzen, der ihr direkt im Flugzeug begegnet ist, ein märchenhaftes Leben im Luxus. 

Allerdings endet das jäh, als der Traumprinz sie betrügt. Ohne Geld, ohne Job, aber einer großen Stange Probleme schlägt Laura bei ihrer Schwester auf, die mit ihrer Familie mittlerweile das ehemalige Elternhaus bewohnt. Unverhofft gesellen sich zu Lauras eigenem Chaos auch noch die Probleme ihrer Nichte Ava. 

Ob Laura den Neuanfang schafft und was es eigentlich mit dem gutaussehenden Jäger im Wald auf sich hat, könnt ihr bald lesen!

Neugierig geworden? Hier geht es zur Leseprobe:

Zwischenfall mit Osternest

Mit einem Berg Schulden und einer Menge geplatzter Träume im Gepäck ist Laura gezwungen, aus New York zurück in die Ostwestfälische Kleinstadt zu ziehen und bei ihrer großen Schwester unterzukriechen. Dumm nur, dass sie in den letzten drei Jahren quasi keinen Kontakt mehr gehabt haben …

Hier ist für euch der Beginn meines Romans „Liebe, Chaos und Kartoffelsalat“. Viel Spaß damit!

„Siebenzwanzig fuffzig!“, brummte der Taxifahrer und streckte ihr seine speckige Hand hin.

Laura reichte ihm dreißig Euro. „Stimmt so.“

Das Geld verschwand in seinem Portemonnaie. 

Sie stieg aus. Unwillkürlich zog sie den Kopf zwischen die Schultern. Hier war nichts davon zu spüren, dass der Frühling begonnen hatte. Eiskalt stach der Nieselregen durch ihr dünnes Kostüm. Vor ein paar Stunden in New York hatten noch sommerliche zwanzig Grad geherrscht. 

Unwirklich erschien es ihr, wieder hier zu sein. In Schwarnberg, dem Ort ihrer Kindheit. Auch wenn sie sich häufig gefragt hatte, wie es ihrer Schwester Susanne und deren Familie wohl gehen mochte, hatte sie nicht erwartet, unter solchen Umständen zurückzukehren. Abgesehen davon, dass ihr der Bruch mit Susanne endgültig vorgekommen war.

 Aber als sie es am wenigsten damit gerechnet hatte und es am meisten brauchte, hatte ihre Schwester sich plötzlich bei ihr gemeldet.

„Habe gelesen, was geschehen ist. Geht es dir gut? Komm für ein paar Wochen zu uns, bis sich der ganze Trubel gelegt hat. Vergiss nicht, ich bin immer für dich da.“ 

Diese E-Mail rührte sie beinahe zu Tränen, stellte sie doch den letzten Ausweg aus einer ausweglosen Situation dar. Ihr Geld ging zur Neige. Das Hotel in Brooklyn war bereits gegen eine billige Absteige getauscht. Ohne Einkommen aber konnte sie sogar das nicht mehr lange durchhalten. Erst durch Susannes Nachricht begann sie, sich die Möglichkeit vorzustellen, nach Deutschland zurückzukehren, auch wenn sie sich dadurch wie die letzte Verliererin fühlte. Nun war sie tatsächlich hier, nach drei Jahren, in denen sie kein einziges Mal zurückgeblickt hatte.

Der Fahrer öffnete den Kofferraum. Laura wartete darauf, dass er die schweren Koffer herausnahm und sie den schmalen Gehweg bis zur Eingangstür hinauftrug, doch dazu er machte keine Anstalten.

„Könnten Sie mir bitte helfen?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und schärfer als gedacht. 

„Ne, ich hab Bandscheibe. Sie machen das schon.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

Verdutzt sah Laura in an. In New York wäre dieses Verhalten undenkbar gewesen. Aber in Schwarnberg, der Kleinstadt am Rande des Teutoburger Waldes, war alles anders.

Weil sie nicht länger im Regen stehen wollte, begann sie unter dem genervten Blick des Taxifahrers, ihr Gepäck aus dem Auto zu zerren. Sie hatte das Gefühl, Ziegelsteine eingepackt zu haben, so schwer waren die Koffer, die die Überreste eines ganzen Lebens enthielten. Beim letzten brach sie sich zu allem Überfluss einen ihrer Fingernägel ab.

Der Fahrer düste ab. Verloren blieb sie am Straßenrand stehen und sah ihm nach, bis er verschwunden war. Sie sehnte sich wieder ins Taxi, um zurück in die weite Welt reisen zu können. Nun aber war sie hier. Und erstmal würde sie bleiben müssen, in ihrer Heimatstadt, die ihr vertraut und doch unendlich fremd war. 

Zögernd wandte sie sich wieder dem Haus zu, das ungerührt von den Geschehnissen der vergangenen Jahre auf demselben kleinen Hügel thronte wie damals, als ihre Eltern noch gelebt hatten. 

Das Eigenheim der Nachbarn gegenüber, von denen ihre Mutter im Spätsommer immer Kübel voller reifer Pflaumen bekommen hatte, war dagegen drei eng aneinandergeklebten Reihenhäusern gewichen, mit handtuchbreiten, aber akkurat geschnittenen Rasenflächen vor den identischen Eingängen. Laura fragte sich, ob diese bereits bewohnt waren, denn kein Licht erhellte die moderne Fensterfront. Waren etwa alle über Ostern verreist?

Aus dem Haus, in dem nun Lauras Schwester mit ihrem Mann Ralf und der gemeinsamen Tochter Ava wohnte, drang plötzlich lautes Stimmengewirr. Unwillkürlich zuckte sie zurück. Hatte ihre Susanne ausgerechnet heute Gäste? Ihr Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass sie eine Willkommensparty organisiert haben könnte. Laura beschloss, erst einmal nachzuschauen, wer im Haus war.

Behutsam stellte sie ihr Gepäck auf den moosbesetzten Bodenplatten ab und schlich zum Küchenfenster hinüber, darauf bedacht, ihre Ziegenlederpumps nicht schmutzig zu machen. Da entdeckte sie ein Osternest, das sich zum Schutz vor Regen zwischen Fensterbank und dem alten Rhododendron versteckte, und musste schmunzeln. Genauso hatten es ihre Eltern früher auch gemacht. 

Kurz vor dem Fenster duckte sie sich, um nicht gesehen zu werden, und kroch nah an die Hauswand. Sie umfasste das Fensterbrett, zog sich vorsichtig hoch und lugte durch die Scheibe.

In dem Moment lief eine fette schwarze Spinne über ihre Hand. Laura unterdrückte einen Schrei, taumelte zurück und konnte gerade noch verhindern, dass sie rücklings in den Matsch fiel. Dafür aber vernahm sie ein erst suppendes, dann knirschendes Geräusch, als sie in das Osternest trat. Eine braune Brühe ergoss sich über ihre Dreihundert-Dollar-Schuhe. 

Laura fluchte leise. Nicht wegen der Schuhe. In ihrer Familie war das Ostereiersuchen ein hitziger Wettbewerb zwischen den Schwestern gewesen. Mehr als einmal war sie in der Osternacht um vier Uhr morgens aufgestanden, um Susannes Nest zu suchen und an einer schwierigeren Stelle wieder zu verstecken. Was wäre es für ein Start, wenn sie, gerade angekommen, zugeben musste, dass sie ihrer Nichte die Überraschung verdorben hatte? 

Kurz erwog sie ihre Optionen. Dann entschied sie, dass es bei allem, was in den letzten Wochen geschehen war, nicht auf noch mehr schlechtes Karma ankam. Sie lauschte, ob jemand ihr merkwürdiges Manöver entdeckt hatte. Dann inspizierte sie das Desaster. Das Nest war ein Totalschaden. 

Mit spitzen Fingern hob Laura die matschige Masse hoch und schlich zur Mülltonne hinüber, die immer noch unter dem Verschlag stand, den ihr Vater vor vermutlich dreißig Jahren gebaut hatte. Sie rümpfte die Nase, als sie den Deckel anhob und ihr ein Geruch nach altem Fisch entgegenschlug. Schnell ließ sie das Osternest hineinfallen und klappte die Tonne wieder zu. 

Doch sie hatte sich erst ein paar Schritte davon entfernt, als ihr aufging, dass sie den Beweis ihrer Missetat nicht gut genug versteckt hatte. Sie kehrte um und spähte mit angehaltenem Atem in die Mülltonne. Nicht gut. Jeder, der etwas hineinwarf, konnte das bunte Schokoladenpapier entdecken. 

Sie schaute sich nach einem brauchbaren Werkzeug um. Schließlich nahm sie die verrostete Harke, die an der Regenrinne lehnte, und stocherte mit ihr so lange im Abfall herum, bis nichts Verdächtiges mehr zu identifizieren war. Dann unterdrückte sie ein Würgen und pulte die schmierigen Zellophanreste, die sich in den Zinken ihres Werkzeugs verfangen hatten, wieder ab. 

Als sie endlich über den Rasen zur Eingangstür stakste, verwandelte sich der Nieselregen in eine Dusche. Das gab ihren sorgfältig gewellten Haaren den Rest. Strähnig klebten sie an ihrem Kopf und tropften über die Schultern ihres durchweichten Seidenkostüms. 

Sie betete, dass die Koffer wasserresistent waren, und zog eine Packung Taschentücher aus der Seitentasche, um die Schokolade auf ihren Schuhen zu entfernen. Doch auf diese Art schienen sich die braunen Flecken nur tiefer in das Leder zu fressen. 

Schließlich gab sie es auf, ließ den Platzregen über sich ergehen und hatte das Gefühl, dass die Wolken die Tränen weinten, die sie noch nicht vergossen hatte. Schlimmer konnte es nicht mehr werden, dachte sie, als sie zaghaft auf den Eingang zuging.

Auf einmal öffnete sich vor ihr die Haustür und ein Mann mit einer gestreiften Wollmütze stürzte heraus, den Kragen seiner Cordjacke vorausschauend gegen den Regen hochgeklappt. 

„Danke euch. Tut mir leid, dass ich so plötzlich wegmuss!“, rief er über die Schulter. 

Als er weiterhastete, stieß er beinahe mit Laura zusammen. Bei ihrem Anblick blieb er wie angewurzelt stehen und riss die Augen auf.

„Laura?“ 

Da er auf ein Erkennen ihrerseits zu warten schien, durchforstete Laura fieberhaft ihr Personengedächtnis. Hochgewachsen, breitschultrig, komischer Klamottengeschmack, sonst aber ziemlich attraktiv. Doch nichts klingelte. Sie hatte keine Ahnung, wer er sein könnte. 

Also sah sie ihn nur fragend an. Seine Mundwinkel kräuselten sich spöttisch, als hätte sie bereits bei der leichtesten Frage einer Quizshow versagt. Dann zuckte er die Achseln und schwang sich auf das Fahrrad, das unabgeschlossen am Zaun gelehnt hatte. 

„Laura?“, erklang die Stimme ihrer Schwester in ihrem Rücken. „Was machst du denn schon hier? Wir haben dich doch erst morgen erwartet!“

Schulterlange braune Haare, etwas zu viel Speck auf den Hüften und kein Make-up im Gesicht, das die unreine Haut verbarg – Susanne hatte sich kaum verändert, seit sie sich vor drei Jahren das letzte Mal gesehen hatten. Lediglich ein paar graue Strähnen schienen neu. 

Einen Moment lang starrten sie sich einfach nur an. Alles, was geschehen war, türmte sich wie eine unüberwindbare Mauer zwischen ihnen auf. 

Da erschien ein kleiner Rotschopf an Susannes Seite. War dieses schlaksige Wesen mit dem hageren Gesicht und den viel zu langen Armen etwa ihre Nichte Ava?

„Wer ist das, Mama?“, fragte das Mädchen und musterte Laura von oben bis unten.

Mit diesen Worten erwachte Susanne aus ihrer Erstarrung. Sie schüttelte den Kopf, als müsste sie einen bösen Geist vertreiben, dann setzte sie ein patentes Lächeln auf. 

„Du bist ja pitschnass, Laura, komm doch schnell rein!“

„Stimmt“, entgegnete Laura, die plötzlich spürte, wie kalt ihr geworden war. Sie schnappte sich so viel von ihrem Gepäck, wie sie auf einmal tragen konnte, und stapfte auf die Tür zu. 

„Ralf! Komm doch bitte mal und hilf Laura mit den Koffern“, rief Susanne über die Schulter. 

Dann stand Laura vor ihr. „Hallo“, sagte sie vorsichtig. 

Mit schmerzvollem Seufzen zog Susanne sie in ihre Arme und presste sie an sich, ungeachtet der Tatsache, dass Laura triefte, als hätte sie den Ozean schwimmend durchquert statt in einem Flugzeug.

Überrascht ließ Laura das über sich ergehen, beugte sich ein wenig zu ihr herunter – sie überragte ihre Schwester beinahe um einen ganzen Kopf – und flüsterte: „Danke!“

„Mama“, quengelte der Rotschopf erneut, „wer ist das?“

„Das ist deine Tante Laura. Du weißt doch, dass sie uns besuchen kommen wollte“, entgegnete Susanne und heftete ihre Augen auf Laura, als könnte sie immer noch nicht glauben, dass sie tatsächlich vor ihr stand. Ein dicker Kloß bildete sich in Lauras Hals.

„Die kenne ich aber nicht!“, konstatierte Ava und blickte Laura feindselig an.

Susanne seufzte und wandte sich mit entschuldigendem Achselzucken an Laura. „Sie ist nicht immer so, das musst du ihr nachsehen.“

„Lange nicht gesehen.“ Ralfs bullige Erscheinung tauchte jetzt neben seiner Frau auf und reichte Laura eine große Hand. „Willkommen“, brummte er noch. 

Doch Laura war sich bei ihm nicht sicher, wie herzlich das gemeint war.

„Wieso bist du so nass?“, erkundigte sich Ava plötzlich neben ihr.

„Weil es geregnet hat“, entgegnete Laura und bemerkte, dass der Regen schlagartig aufgehört hatte.

Es fühlte sich seltsam an, wieder hier zu sein, in dem Haus, das ihre Eltern damals gemeinsam gebaut hatten. Vieles war noch so sehr vertraut. Ihre Schwester hatte wenig verändert, sogar einige der Bilder waren dieselben wie früher, bloß, dass jetzt Avas Malereien die Wände zierten und nicht mehr die von Laura oder Susanne. Hier hatte sie ihre gesamte Kindheit verbracht und immer war ihre Mutter da gewesen. Immer, bis zu dem letzten herzzerreißenden Tag, an dem sie Rosen auf einen hölzernen Sarg geworfen hatten. 

Auf einmal kam die Erinnerung übermächtig wieder hoch. Diese abgrundtiefe Verzweiflung, als sie feststellen musste, dass sie nun nicht nur den Vater, sondern auch die Mutter an dieses wuchernde Monstrum namens Krebs verloren hatte. Dieser Unglauben, dass sie plötzlich nicht mehr da war. Dass es keine Küchentischgespräche mit Kaffee und dem Butterkuchen mehr geben würde, den die Mutter am besten von allen backen konnte. Nie wieder. 

Sie wusste noch genau, wie im buchstäblichen Sinne mutterseelenallein sie sich gefühlt hatte. Einsam, verzweifelt und entwurzelt. Und nicht in der Lage zu verhindern, dass das Gespräch mit Susanne ausuferte, ihr entglitt und zu einem Zerwürfnis führte, bei dessen Gedanken sich die Mutter im Grabe umdrehen würde. 

Sie lehnte sich mit der Stirn an die blümchenverzierten Badezimmerfliesen und fragte sich, wie sie es aushalten sollte, jetzt gleich den Gästen ihrer Schwester zu begegnen. Vor allem, weil sie nicht wusste, wie viel Susanne ihnen erzählt hatte. Sie betete, dass sie den Tag überstehen würde, bis den Höflichkeiten Genüge getan war und sie sich endlich die Bettdecke über den Kopf ziehen konnte. 

Notdürftig trocknete sie die Haare mit einem Handtuch. Dann machte sie sich auf den Weg ins Dachgeschoss, wohin ihr Schwager keuchend ihr Gepäck geschleppt hatte. 

Auf halber Strecke blickte sie auf ein Bild, das ihre Mutter früher mal gestickt hatte. „Ohne Wurzeln kann ein Baum nicht wachsen“, stand in verschnörkelten Buchstaben auf dem leicht vergilbten Stoff. Was sie davon halten würde, dass Laura jetzt, drei Jahre nach ihrem Tod, das erste Mal wieder in Schwarnberg war?

Kaum hatte sie das Dachzimmer betreten, erschien auch schon ihre Schwester hinter ihr.

„Es tut mir echt leid! Wir wollten es für dich noch schön machen.“ Mit entschuldigendem Blick raffte sie die „Bibi und Tina“-Bettwäsche zusammen.

„Ist das hier Avas Zimmer?“, fragte Laura erstaunt. Nun wurde ihr immerhin klar, wieso das Mädchen sie vorhin so feindselig angesehen hatte. Sie hätte auch keine Lust gehabt, ihr Reich einer quasi unbekannten Tante abzutreten.

„Ja, aber sie war einverstanden, es dir für eine Weile zu überlassen. Ist ja nur für den Übergang, nicht wahr?“, erwiderte Susanne leichthin.

„Sicher“, bestätigte Laura, die keine Ahnung hatte, wie es mit ihrem Leben jetzt weitergehen sollte und ob ein paar Wochen reichten, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Sie spürte, wie ihre Kehle eng wurde. „Nur für den Übergang.“

„Wir dachten, es ist für dich netter, wenn du hier deine Ruhe hast. Ava zieht so lange in Ralfs Arbeitszimmer.“

Susanne deutete auf die Pferdetapete an der Wand. 

„Ich hoffe, die Deko stört nicht allzu sehr.“

„Nein, gar nicht“, versicherte Laura hastig. „Noch mal danke, dass ich hier sein darf.“

„Das ist doch auch dein Zuhause. Wir freuen uns, dich endlich wieder zu haben.“ Mit halb geöffnetem Mund stand Susanne vor ihr, als wolle sie noch etwas hinzufügen. Dann räusperte sie sich. „Wie kommt es eigentlich, dass du einen Tag zu früh bist?“

„Keine Ahnung. Ich dachte wirklich, dass ich dir das richtige Datum geschickt hatte. Vermutlich bin ich einfach ein bisschen zu durcheinander.“ Laura zuckte verlegen mit den Schultern. Das ging ja gut los. Gleich zu Beginn Chaos zu verursachen, hatte sie nicht vorgehabt. „Tut mir leid.“

Susanne lächelte aufmunternd. „Macht ja nichts. Hauptsache, du bist da.“

Sie hob die Hand, als wollte sie Laura über den Arm streichen, ließ sie aber unvermittelt wieder sinken und wandte sich zum Gehen. „Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst.“ (…)

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Diese Erzählung ist Teil des Autoren-Adventskalenders, wo ihr jeden Tag eine neue, wunderbare Geschichte entdecken könnt. Schaut euch gern einmal die Beiträge meiner Kollegen und Kolleginnen an!

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Foto: Pixabay!

(K)ein Freund zu Weihnachten

Um ein peinliches Geheimnis zu bewahren, überredet Studentin Kate ihren Pannenhelfer, sich an Weihnachten als ihr Freund auszugeben und nimmt ihn mit in die beschauliche Kleinstadt Dawsonville in Vermont. Sie ahnt nicht, dass er ein berühmter Rockstar auf der Suche nach seinen Wurzeln ist. Als er die ausgerechnet in Kates Heimatstadt zu finden glaubt, nimmt das Chaos seinen Lauf. 

Lest hier exklusiv und als Teil des großartigen Autoren-Adventskalenders das zweite Kapitel meines Weihnachtsromans, der inzwischen bereits erschienen ist. Hier könnt ihr weiterlesen! Wer den Anfang noch nicht gelesen hat: Hier geht es zur Geschichte vom vergangenen Jahr. Frohe Weihnachten!

Kreidebleich sah sie aus, als hätte sie eine katastrophale Nachricht erhalten. Ihre ohnehin schon helle, fast weiße Haut hatte einen fahlen Schimmer angenommen. Aber Jordan würde den Teufel tun und sich erkundigen, was los war. Nein. Diese Frau ging ihn rein gar nichts an.

Wenn die Straße nicht so verdammt einsam gewesen wäre, wenn er hätte sicher sein können, dass in absehbarer Zeit andere Autos vorbeikämen, hätte er nicht einmal angehalten. Nichts drängte ihn, den Samariter zu spielen. Er wusste längst, dass er kein guter Mensch war. Er war jemand, der alle, die ihm zu nahekamen, von sich wegstieß, konnte weder ein verlässlicher Partner noch ein wahrer Freund sein. Das würden seine Jungs früh genug entdecken und sich von ihm abwenden. Für ihn lohnte es sich karmamäßig längst nicht mehr, den Gutmenschen zu mimen. Einen Tod auf dem Gewissen haben, wollte er aber auch nicht. Das war der einzige Grund, aus dem er angehalten hatte.

Mittlerweile fand er, dass das ein schwerer Fehler gewesen war. Er wollte in Ruhe seine Nachforschungen anstellen und ärgerte sich, dass er sich hatte breitschlagen lassen, sie sogar noch weiter mitzunehmen. Andererseits, wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass er einer Frau Pannenhilfe gab, die ausgerechnet aus Dawsonhills kam?

Er konnte sich genau erinnern, wie er diesen Namen das erste Mal gelesen hatte. „Dawsonhills, Vermont.“ Er hatte ihn wieder und wieder gesagt, in der Hoffnung, dass es irgendeine Erinnerung in ihm auslösen würde. 

Barry Brunswick, sein Manager, der so etwas wie ein Vaterersatz für ihn war, war letzten Endes der Auslöser gewesen, dass Jordan diese Reise unternahm. Denn er hatte ihm geraten, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, als Jordan das erste Mal mit Schlafproblemen und Auftrittspanik zu kämpfen begann. 

„Glaub mir, Junge, das Business ist beinhart. Wenn du auch nur das Fitzelchen eines persönlichen Problems hast, musst du das lösen. Habe schon so viele vor die Hunde gehen sehen. Bezahl einen Detektiv, damit er für dich herausfindet, wer deine Eltern sind und warum sie dich nicht haben wollten. Anschließend am besten noch einen Psychologen. Nur so kannst du deinen Frieden finden, wirklich.“

Erst fluchte Jordan ihn einen Pseudopsychologen. Dann aber besann er sich und engagierte tatsächlich einen sündhaft teuren Detektiv. 

Vor zwei Tagen hatte der doch noch Erfolg gehabt und eine Kopie der Geburtsurkunde ergattert, die aus unerfindlichen Gründen nie auffindbar gewesen war. Da stand es endlich schwarz auf weiß. Neugeborenes unbekannter Herkunft, gefunden in Dawsonhills, und nun war er eben hier. Im beschaulichen Vermont und nicht auf Barrys Weihnachtsparty. Jordan hatte keine Familie, die er über die Feiertage hätte treffen können. Die einzigen beiden Pflegegeschwister, mit denen er noch Kontakt hatte, wohnten mittlerweile in Vancouver. 

Ein wenig neidvoll betrachtete er das Mädchen, das auf seinem Beifahrersitz saß, die Nase bockig in ihre Uniunterlagen gesteckt. Sie besaß eine Familie, für die sie eine Fahrt von einigen Stunden auf sich nahm. Wenn er ehrlich war, erfüllte ihn das mit Neid. Früher hatte er sich nach so etwas gesehnt. Nach Nestwärme, Geschenken und Zimtgeruch in der Luft.

Kate schien zu bemerken, dass er über sie nachdachte, und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sie war nicht die Art von Mädchen, von der er sich normalerweise angezogen fühlte. Sie wirkte für ihn viel zu ernsthaft, beinahe ein bisschen verklemmt. Dennoch war sie auf eine eigene Art hübsch mit den kastanienbraunen, kurzen Locken, den großen, grünen Augen und der leicht nach oben geneigten Stupsnase. Allerdings genau der Typ braves Mädchen, von dem er konsequent die Finger  ließ, weil sie ihm immer nur Ärger brachten.

Trotzdem fragte er sich, was in ihr vorging. Ohne mit der Wimper zu zucken, harrte sie im Schnee aus, um auf einen Abschleppwagen zu warten. Aber eine Kurznachricht auf ihrem Handy brachte sie aus der Fassung. 

„Erzähl doch mal: Wovon braucht jemand wie du denn Abstand?“

Er verdrehte die Augen und schwieg.

„Jetzt tu doch nicht so geheimnisvoll.“ 

Kate blinzelte ihn von der Seite an. 

Frauen waren manchmal aber auch zu neugierig.

„Ganz ehrlich, Süße, ich habe in letzter Zeit viel gearbeitet und dringend das Bedürfnis, mit mir und meinen Gedanken allein zu sein. Ich freue mich einfach auf ein wenig Ruhe.“ 

Sie sah ihn an. Prüfend. Der Blick aus den grünen Augen schien direkt in sein Herz zu dringen. „Was wirst du denn machen, falls du keine Unterkunft in der Stadt findet? Fährst du dann direkt wieder zurück nach … wo kommst du eigentlich her?“

„Du kannst es nicht lassen, oder?“ Er setzte ein selbstgefälliges Grinsen auf. „Fast könnte man denken, du wärest daran interessiert, meinen Adoniskörper in dein Bett zu bekommen!“

Damit hatte er sie. Sie lief puterrot an, wusste offenkundig nicht, wo sie hinsehen sollte, und öffnete den Mund zweimal, ohne dass ein Laut ihn verließ.

Er lachte schallend.

„Aus New York. Sorry, Süße, den konnte ich mir nicht verkneifen!“

Ihr Atem klang wie ein Luftballon, aus dem man die Luft herausließ. „Toll“, entgegnete sie sarkastisch und legte den Kopf schief. „Da wir das geklärt haben, habe ich das perfekte Angebot für dein selbstbewusstes Ego!“ Herausfordernd funkelte sie ihn an.

Er hob eine Augenbraue. 

„Weihnachten in Dawsonhills. Freie Kost und Logis. Ein grandioser Truthahn mit allem Drum und Dran. Und die passende flüssige Verpflegung.“ 

„Wo ist der Haken?“

Sie knetete ihre Hände, dann blickte sie ihn an und schien all ihren Mut zusammenzunehmen. Sie war echt niedlich, wenn sie ihn so mit leicht nach unten geneigtem Kopf ansah. Er ertappte sich dabei, dass er eine der schimmernden Locken zwischen seine Finger nehmen wollte, um zu prüfen, ob sie sich genauso seidig anfühlten, wie sie aussahen.

„Ich stelle dich meiner Familie als meinen Freund vor.“ 

Vor Schreck übersah er den Lieferwagen, der ihnen in einer engen Kurve entgegenkam, so dass er eine scharfe Bremsung hinlegen musste.

„Bist du irre?“, fragte er fassungslos. Da würde sich ein Rentier besser als Weihnachtsdate eignen. „Wieso zum Teufel sollte ich das tun?“ Das hatte man davon, wenn man sich völlig unüberlegt zum Retter einer Jungfrau in Nöten aufschwang.

Kate blickte gekränkt zur Seite. „Ich dachte, da du scheinbar keine Pläne für Weihnachten hast …“, sagte sie leise und schob schmollend die Unterlippe vor.

Großartig. Sogar seine Zufallsbekanntschaft hielt ihn für einen in sozialer Hinsicht unterentwickelten Loser, einen Mann ohne Freunde und ohne Familie. Was hatte Ally doch zu ihm gesagt, als sie ihn verlassen hatte? Jordan LeClerc interessiere ohnehin nichts außer Jordan LeClerc? 

„Ich habe Pläne. Die gehen dich bloß nichts an. Außerdem wüsste ich nicht, dass wir uns bereits so nahegekommen wären“, knurrte er. 

Dieses Mädchen konnte ihn wirklich aufregen. Er bemerkte, dass seine Hände derart stark das Lenkrad umklammerten, dass die Fingerknöchel weiß hervorstachen.

„Entschuldige“, erwiderte Kate, wirkte aber alles andere als zerknirscht. Dann senkte sie den Kopf, sah ihn mit ihren dichten Wimpern von der Seite an und seufzte. „Ist ja schon wahnsinnig nett, dass du mich fährst, da kann ich dich ja nicht auch noch um so etwas bitten.“ 

Beinahe hätte er ihr das abgekauft. Doch er sah, wie ihre Augäpfel für eine Millisekunde nach oben wanderten. Eine unbewusste Geste, die er oft beobachtet hatte. Wenn diese Bewegung kam, wusste er, dass er als Nächstes angelogen werden würde.

Kate legte ihm schmeichelnd die Hand auf den Arm. „Es ist bloß so, dass Granny unbedingt meinen Freund kennenlernen wollte, und nun wissen wir nicht, ob sie das nächste Weihnachtsfest noch miterleben wird.“ Sie presste theatralisch die Lippen zusammen. „Aber meine aktuelle Beziehung ist leider … nun ja, kompliziert. Ich konnte ihn nicht überreden, mitzukommen.“ 

Dann klimperte sie ihn mit großen treuen Augen von der Seite an, als wäre sie ein Corgi, der um die Tischabfälle bettelt. Doch Kate hatte Pech. Jordan konnte es nicht ausstehen, wenn Leute Spielchen mit ihm spielten. 

„Das ist nicht mein Ding und vor allem nicht die Art, wie ich Weihnachten verbringen möchte. Tut mir leid, Kate.“

Sie nickte stumm, dann lehnte sie den Kopf an die Fensterscheibe. Verloren schaute sie über die weißschimmernden Berge, als erwarte sie in Dawsonhills ein schlimmes Schicksal. Aber von dem dramatischen Blick würde er sich nicht beeindrucken lassen.

Still fuhren sie weiter. Leise untermalt vom unvermeidlichen „White Christmas“. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Möglicherweise überlegte Kate immer noch, wie sie Jordan zu ihrem merkwürdigen Spiel überreden konnte. 

Er dagegen fragte sich, ob vor vierundzwanzig Jahren der Schnee ebenfalls beinahe einen halben Meter hoch auf den Bäumen gelegen hatte. Man konnte kaum glauben, dass die schmalen Äste in der Lage waren, eine derartige Schneemasse auszuhalten. 

Auf einmal erschrak er und bremste instinktiv ab. Die Straße vor ihm schien mitten durch eine Scheune zu führen. Verwundert betrachtete er das seltsame Bauwerk und erkannte, dass es sich um eine überdachte Brücke handelte. Allerdings bezweifelte er, dass sie in der Lage war, das Gewicht seines Autos zu tragen. Er fluchte über die Nutzlosigkeit des Navis. So etwas mussten die Macher des Programms doch auch berücksichtigen.

„Keine Sorge“, kam es leise von rechts. „Da bin ich bestimmt hundertmal drübergefahren. Sie ist viel stabiler, als sie aussieht. Man muss lediglich aufpassen, dass einem niemand entgegenkommt.“

Kurz erwog er, trotzdem umzukehren. Dann entschied er, sich seinem Schicksal zu überlassen. Wenn sie meinte, über eine morsche Brücke fahren zu müssen, wäre jedenfalls nicht er schuld an ihrem Tod. 

Im Schritttempo fuhr er weiter. Er erwartete schon, die betagten Holzbalken krachen zu hören, sah sich mitsamt seinem Auto in die eisigen Fluten unter ihnen stürzen, doch sie kamen unbeschadet hinüber. Was mochte die Erbauer der Brücke wohl dazu bewogen haben, ein ganzes Fachwerkhaus darüber zu setzen?

„Man sagt, dass auf diese Art Pferde weniger gescheut haben, wenn sie über das tosende Wasser laufen sollten“, kam die Erklärung von rechts, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. 

„Ach so“, kommentierte er lahm, dann verfielen beiden wieder in Schweigen. 

Im Radio erklangen die ersten Takte von ihrem unseligen Coversong „Merry Christmas“, dem peinlichsten Lied, das er je aufgenommen hatte. Wenn er sich selbst im kitschigen Weihnachtssweater auf dem Video sah, bekam er regelmäßig Brechanfälle. Eilig schaltete er weiter und war erleichtert, dass Kate so sehr in Gedanken versunken war, dass sie das gar nicht zu registrieren schien.

Der Abendhimmel hatte die letzte Helligkeit geschluckt und die schneebedeckten Straßen wurden nur noch durch die Scheinwerfer seines Wagens erhellt. Beinahe waren sie am Ziel, da glaubte er plötzlich, Spuren im Schnee zu sehen. Spuren einer frischgebackenen Mutter, die sich mühsam den Hügel hinunterschleppte, um mit letzter Kraft ein wimmerndes menschliches Bündel auf irgendeiner Treppe abzulegen. War sie danach sofort verschwunden? Oder hatte sie gewagt, zu klingeln, um sicherzugehen, dass das Baby nicht an der Kälte starb? Hatte sie aus einem Versteck heraus beobachtet, wie jemand die Tür öffnete und das Neugeborene mit ins Warme nahm? 

Wie sehr wünschte er sich, zu erfahren, was geschehen war. Wieso hatte seine Mutter ihn nicht haben wollen oder können? Wieso hatte sie es nicht einmal geschafft, ihn zur Adoption freizugeben? Er stellte sich vor, wie sie das Kind in der Kälte ganz allein zur Welt hatte bringen müssem. Ob sie überhaupt noch lebte?

Je näher er dem Ort kam, an dem seine Mutter gewesen sein musste, desto mehr spürte er so etwas wie eine Verbindung in die Vergangenheit. Dies erfüllte ihn mit Freude und Furcht gleichermaßen. Bislang wusste er nicht, ob er es aushalten würde, all das zu sehen, die verschütteten Gefühle hervorzuholen, die Angst, die Sehnsucht und natürlich die Wut. Er fürchtete die Tiefen seiner Seele und die alles zerstörende Traurigkeit. Noch immer hatte er keine Ahnung, ob er es überhaupt wagen konnte, sich all dem auszusetzen.

Sie erreichten die Kuppel des Hügels. Als sie der Straße nach links folgten, erstreckte sich unten im Tal ein wahres Weihnachtswunderland. Die Hauptstraße der kleinen Stadt erstrahlte in Millionen von Lichtern.

„Wow!“, sagte er überwältigt. „Das sieht ja aus, als würde der Weihnachtsmann persönlich hier wohnen.“

„Nicht wahr?“ Kate lächelte zaghaft. „Dawsonhills ist ein ganz besonderer Ort.“

Am Straßenrand wiesen hellerleuchtete, lebensgroße Figuren den Besucher ins Zentrum der Stadt. Ein Weihnachtsmann mit Kutsche, Engel, eine Horde Gänse, die vielleicht vor dem Kochtopf fliehen wollte, überdimensional große Geschenke, ein Nussknacker. Die warm eingehüllten Passanten trugen farbenfrohe Pakete und glitzernde Tüten. Ein Straßenverkäufer bot heiße Maronen an. In einem in tausend Lichtern funkelndem Pavillon spielte eine kleine Blaskapelle Weihnachtslieder. 

Doch am meisten erstrahlte die Kirche. Der Baum vor ihr war gigantisch, mit prunkvollen roten Schleifen dekoriert und in Lichterketten gehüllt. 

„Das ist die St. Bartholomeus Church. Unsere berühmte Kirche.“

„Wieso berühmt?“ Sie sah aus wie eine hübsche, alte Kirche, von der es sicher hunderte im ganzen Land gab.

„Hast du noch nie vom Weihnachtswunder in Dawsonhills gehört?“

„Nein“, entgegnete er gedehnt. 

„Wirklich nicht? Was vor einem Vierteljahrhundert hier geschehen ist, war so bewegend, dass es sogar in Europa in den Zeitungen gestanden hat.“ Mit glänzenden Augen und sichtlichem Stolz sah sie ihn an. 

„Nein.“ Er zuckte die Achsel. Es interessierte ihn auch nicht.

„Hier müssen wir rauf.“ Kate deutete auf ein Schild auf dem „Redwood House“ zu lesen war. 

Schweigend bog Jordan die Auffahrt hinauf. Seit sie den Ort erreicht hatten, stand er auf eine merkwürdige Art unter Strom, als erwartete er jederzeit, dass irgendwo eine Frau mittleren Alters hervorspringen und ihn ihren verloren geglaubten Sohn nennen würde. Oder dass die Stadt in irgendeiner Weise eine Erinnerung in ihm hervorrufen würde, die einen Hinweis auf seine Herkunft barg. 

Beides war natürlich totaler Nonsens. Als er den Ort das letzte Mal gesehen hatte, war er wenige Tage alt gewesen – er konnte nicht einmal genau sagen, ob er wirklich in Dawsonhills zur Welt gekommen war, oder bloß hier aufgefunden ­– und die Frau, die ihn bei Eis und Kälte ausgesetzt hatte, hatte wohl zumindest billigend seinen Tod in Kauf genommen. Insofern würde sie sich wohl kaum über sein Erscheinen freuen. Eigentlich wusste er gar nicht, was er hier tat und warum er diese Reise überhaupt unternahm. Außer vielleicht, um Antworten zu finden. Darüber wieso die Dinge waren, wie sie waren. Warum er selbst war, wie er war.

Glücklicherweise besaß sein Wagen Allradantrieb, denn die schmale Straße war nicht geräumt und die festgefahrene Schneedecke an einigen Stellen bereits vereist. Kaum hatten sie die kurze Steigung passiert, erstreckte sich vor ihnen ein hell erleuchtetes Herrenhaus. Die Fenster in allen drei Stockwerken waren mit riesigen roten Schleifen dekoriert. Um die Säulen der Veranda waren Lichterketten gewunden. Das Zentrum der kreisrunden Einfahrt zierte eine sicher vier Meter hohe, geschmückte Tanne, während die parkenden Autos darauf schließen ließen, dass es sich heute um keine kleine Party handeln würde. 

„Wow, das ist dein Zuhause? Nicht schlecht.“ Kate hatte zwar auf ihn den Eindruck einer wohl behüteten jungen Dame gemacht, dieses Haus wirkte aber, als wären ihre Eltern schwerreich.

Kate lächelte verlegen. „Redwood House ist schon lange im Familienbesitz. Möchtest du es dir mal von innen ansehen? Mein Angebot gilt und wenn dir der Truthahn nicht gefällt, finden wir etwas anderes zu essen.“ 

Für einen Moment zögerte er. Sie besaß eine gewisse eigensinnige Niedlichkeit und es hätte ihn durchaus interessiert, zu erfahren, wie sie wohl ihre Dankbarkeit ausdrückte. Doch er schüttelte erneut den Kopf.

„Tut mir leid, so was ist wirklich nicht mein Ding.“

Er öffnete den Kofferraum und stellte ihr Gepäck auf den festgefahrenen Schnee. Schließlich standen sie voreinander. Kate streckte ihn die Hand hin. 

„Tja, dann herzlichen Dank fürs Mitnehmen“, sagte sie. „Vielleicht laufen wir uns ja beim Weihnachtsgottesdienst über den Weg.“ 

„Ja, vielleicht. Aber ich denke, dass ich weiterfahre. Ich habe bereits gesehen, was ich sehen wollte.“ (…)

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Geschwisterstreit

Ein Ausschnitt aus meinem aktuellen Schreibprojekt:

Eine Woge des schlechten Gewissens stieg in ihr auf. Wieder machte sie alles falsch. Aber Laura hatte das Gefühl, durchzudrehen, wenn sie hierbliebe. Allein die Tatsache, dass sie in ihrem Elternhaus am Küchentisch saß, verursachte Beklemmungen bei ihr. Nur mit Mühe hatte sie die Beerdigung ausgehalten, ohne zusammenzubrechen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sich nun alles geändert hatte. Dass sie nun bis auf ihre große Schwester vollkommen allein auf der Welt war. 

„Wo soll es denn hingehen?“, fragte Susanne mit gefährlicher Ruhe. 

„Ich dachte an die USA, vielleicht New York.“ Laura beobachtete, wie ihr Gesicht einen harten Ausdruck bekam. 

„Das kann einfach nicht dein Ernst sein“, meinte Susanne bitter.

„Was kann nicht ihr Ernst sein?“, erkundigte sich Ralf eine Spur zu heiter. In seinem dunklen Anzug kam er ihr irgendwie kostümiert vor.

„Laura plant, erstmal kein Referendariat zu machen. Stattdessen will sie eine nette Reise in die USA antreten.“ 

USA sprach sie mit leichtem Spucken aus, so als wäre das der Gipfel der Dekadenz. Natürlich. Susanne war in ihrem spießigen Dasein noch nicht weiter als bis auf einen Campingplatz in Holland gekommen. Aber vielleicht gab es Menschen, die sich vom Leben etwas Anderes wünschten? Wer war sie überhaupt, über Laura zu urteilen? 

Ralf blickte zwischen den Schwestern hin und her. Laura sah, wie er überlegte, was er sagen konnte. Dann schlug er sich selbstredend auf die Seite seiner Frau.

„Wovon willst du das denn finanzieren?“, fragte er mit gerunzelter Stirn. 

Plötzlich wurde Laura wütend. Die beiden hier hatten sich. Ihr Kind, ihre perfekte kleine Kernfamilie. Für Laura war da kein Platz. Auf einmal fühlte sie sich wie der einsamste Mensch auf dem Planeten. 

„Natürlich von meinem Teil des Erbes“, entgegnete Laura und wusste genau, dass sie sich auf diese Weise Feinde machen würde. Sie hörte die unausgesprochenen Gedanken von Ralf und Susanne so laut, als würden sie sie ihr mit einem Megaphon entgegenschreien. 

„Nach allem, was wir durchgemacht haben, wird Laura uns zwingen, sie direkt auszuzahlen, damit sie eine Vergnügungsreise machen kann.“

Es war längst ausgemacht, dass Susanne mit ihrer Familie in ihr ehemaliges Elternhaus zog. Sie würden wegen Laura einen Kredit aufnehmen müssen. Bestimmt hatten sie erwartet, dass Laura durch das Referendariat nicht sofort auf das Geld angewiesen sein würde und sie Zeit hätten, bis sie die Summe aufbringen mussten.

Susanne drehte sich zu Laura um. Ihr Gesicht war gerötet und in ihren Augen brannten wütende Tränen. „Dann hoffe ich, dass du mit dieser Entscheidung glücklich wirst und dass du nie mehr in die Situation kommst, unsere Hilfe zu brauchen. Dieses Haus steht dir dann nämlich nicht mehr offen.“

Das waren, abgesehen von nichtssagenden Weihnachtskarten, die letzten Worte, die sie miteinander gesprochen hatten. Bis zu jenem Tag in Brooklyn, als plötzlich ihre Schwester am Telefon gewesen war und gesagt hatte: „Komm nach Hause, Laura. Bitte.“