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Driving home for Christmas

Um ein peinliches Geheimnis zu bewahren, überredet Studentin Kate ihren Pannenhelfer, sich an Weihnachten als ihr Freund auszugeben und nimmt ihn mit in die beschauliche Kleinstadt Dawsonville in Vermont. Sie ahnt nicht, dass er ein berühmter Rockstar auf der Suche nach seinen Wurzeln ist. Als er die ausgerechnet in Kates Heimatstadt zu finden glaubt, nimmt das Chaos seinen Lauf. 

Lest hier als Teil des großartigen Autoren-Adventskalenders den Beginn meines vierten Romans, der inzwischen erschienen ist. Frohe Weihnachten!

Heiligabend

Dicke Schneeflocken segelten auf die Windschutzscheibe des Buicks, den ihr Vater ihr zum Beginn ihres Studiums geschenkt hatte, erleichtert darüber, dass sie sich nun doch nicht für Paris, sondern für Yale entschieden hatte. 

„Damit du immer nach Hause kannst, wenn dir danach ist.“

Das war typisch für ihren Vater und den Helden ihrer Kindheit. Alles würde er tun für seine „Prinzessin“, wie er sie nannte, für das Nesthäkchen der Familie. 

Wie gut, dass er nicht ahnte, dass Kate Watson triftige Gründe hatte, ihre kleine Heimatstadt in den Hügeln von Vermont zu meiden und eigentlich in nächster Zeit nicht geplant hatte, zurückzukommen. Geheimnisse wahrten sich nämlich schlecht in dem 900-Seelen-Nest Dawsonhills, wo jeder jeden kannte.

Verdammt, was war das Dunkle da mitten auf der Straße? Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie es glatt für ein Rentier halten. Instinktiv stieg sie in die Eisen und erinnerte sich im selben Moment daran, wie ihr Vater ihr eingebläut hatte, dass das bei Eis und Schnee ein tödlicher Fehler sein konnte. Augenblicklich brach der Wagen nach links aus und kam ins Trudeln. Kate versuchte verzweifelt, gegenzulenken. Doch vergebens. Der Boden unter der Schneedecke war spiegelglatt.

„Scheiße!“

In Gedanken sah sie die Bäume auf sich zurasen, spürte die heftige Kollision, ihr eigenes Ende. Ungebremst schoss der Wagen auf die malerisch mit Schnee bedeckten, mächtigen Kiefern am Wegesrand zu. Sie hatte keine Chance. Ein dicker Stamm befand sich direkt in ihrer Richtung. 

Sie schrie, schloss die Augen, betete. 

Es gab einen starken Ruck, dann nichts mehr. Kate röchelte. Der Druck auf ihren Rippen ließ sie nach Luft schnappen. Sie öffnete vorsichtig die Lider wieder und stellte fest, dass sie kopfüber über dem Airbag hing. Wie ein Pfeil hatte die Motorhaube sich in den meterhohen Schnee gebohrt, höchsten einen halben Meter von dem dicken Stamm entfernt, auf den sie zugerast war. 

Behutsam bewegte sie Beine, Arme, Kopf. Kein Blut, alles intakt. Vor Erleichterung schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie realisierte, was ihr gar nicht so bewusst gewesen war: Sie lebte trotz der Gewissensbisse [Schönes Foreshadowing ☺︎], die sie seit gut einem Jahr quälten [Kommentar dazu weiter unten], verdammt gern. 

Langsam, ganz langsam, beruhigte sich ihr pochender Herzschlag wieder. 

Allerdings war die Lage, in der sie sich nun befand, alles andere als komfortabel. Sie steckte fest. Die beiden vorderen Türen waren beim besten Willen nicht zu öffnen. Schneemassen keilten sie ein. Sie musste über die Rückbank aussteigen. Mühsam zog sie sich an den Kopfstützen der Vordersitze nach oben und versuchte, sich durch die schmale Öffnung nach hinten zu zwängen. 

Doch als sie mit einem Bein hinten und einem vorn war, geriet der Boden unter ihr ins Wanken. Mit Entsetzen bemerkte sie, wie sich das Heck des Autos zurückneigte und tief in den Schnee sackte. Sie hielt den Atem an, erwartete innerlich, dass noch etwas geschah. 

Schließlich wagte sie sich vorsichtig nach hinten, doch es kam zu keiner weiteren Bewegung. Ihr Auto schien seine endgültige Parkposition erreicht zu haben. Langsam beruhigte sich ihr pochender Herzschlag wieder und sie scannte ihre Lage. Ernst, aber nicht verzweifelt. 

Nun waren auch die hinteren Türen blockiert. Sie konnte versuchen, durch ein Fenster herauszuklettern. Allerdings war ihr auf der Straße seit mindestens einer Stunde kein weiteres Auto begegnet. Wenn sie draußen wartete, würde sie vor allem eines tun: bitterlich frieren. Sie entschied, es zuerst mit der Pannenhilfe zu probieren.

„Hier ist gerade die Hölle los. Man möchte meinen, die Leute hätte noch nie in ihrem Leben Schnee gesehen. Wenn Sie nicht in einer lebensbedrohlichen Lage stecken, werden Sie sich gedulden müssen“, erwiderte die Frau am anderen Ende der Leitung, nachdem Kate ihre Situation dargestellt hatte. „Ich hoffe, Sie waren so vernünftig, eine warme Decke mitzunehmen. „Im Notfall rufen Sie nochmal an.“

Sie überlegte, ob sie ihre Eltern bitten sollte, sie abzuholen. Aber ihre Mutter war mitten in hektischen Weihnachtsvorbereitungen und seit einigen Wochen ohnehin nicht allzu gut auf ihre Tochter zu sprechen. Es würde der Atmosphäre beim Weihnachtsfest nicht helfen, wenn Kate nun alles durcheinanderbrachte. Die Weihnachtsparty im Hause Watson war eine ernste Angelegenheit, deren Vorbereitungen bereits nach den Sommerferien begannen. Sally Watson war eine Perfektionistin, der ihr Ruf als Gastgeberin heilig war. 

Die Thermoskanne mit Tee war noch gut gefüllt und heiß. Kate hatte eine dicke Daunenjacke dabei und eine Decke auf der Rückbank. Momentan war es warm genug. Kritisch würde es erst werden, wenn zum Abend die Temperaturen sanken. Bis dahin aber sollte sich der Abschleppwagen zu ihr durchgekämpft haben. 

Sie entschied, sich in Geduld zu üben, machte es sich bequem und zog ihre Unisachen heraus, die sie glücklicherweise auf dem Beifahrersitz verstaut hatte. Ebenso gut konnte sie die Zeit nutzen, um mit ihrem Essay voranzukommen. Während ihres Heimatbesuches würden die Sachen oft genug liegen bleiben.

Auch deshalb war sie fest entschlossen gewesen, den Überredungskünsten ihrer Mutter zu trotzen und dieses Jahr auf Weihnachten im Kreis der Familie zu verzichten. Abgesehen davon, dass es eine gewisse Person gab, der sie auf gar keinen Fall begegnen wollte, war ihr Studium gerade in einer heißen Phase. 

Über die Feiertage sollten die Studenten aus Professor Kalsofskys Literaturklasse eine Abhandlung über das romantische Werk von Lord Byron verfassen. Das beste Essay hatte die Chance, in der führenden amerikanischen Literaturzeitschrift abgedruckt zu werden. Das war Ehre und Zukunftschance gleichermaßen. Die Strebsamen unter ihren Kommilitonen hatten ihre Familien bereits informiert, dass sie über Weihnachten nur bedingt ansprechbar sein würden. 

Daher hatte Kate ebenfalls geplant, die Feiertage im Studentenwohnheim zu verbringen, auch wenn es ihr schwerfallen würde, auf die schönste Zeit des Jahres in ihrer Heimatstadt zu verzichten. Um Weihnachten herum spielte die beschauliche Kleinstadt Dawsonhills Jahr für Jahr verrückt. Die Bewohner überboten sich mit Dekorationen, Plätzchenwettbewerben und Veranstaltungen. 

Außerdem war der Lichtergottesdienst um Mitternacht die wohl stimmungsvollste Art, den ersten Weihnachtstag einzuläuten. Dennoch war es für alle das Beste, wenn sie in diesem Jahr dem ganzen Trubel fernbliebe. Das hatte sie sich immerhin eingeredet. Doch dann hatte ihre Mutter volle Geschütze aufgefahren. 

„Granny geht es nicht gut. Vielleicht wird es ihr letztes Weihnachtsfest sein. Willst du das wirklich verpassen?“ 

Das war das Einzige, was Kate in diesem Jahr umstimmen konnte. Ob es nun stimmte oder nicht, das letzte Fest mit ihrer geliebten Granny wollte sie auf keinen Fall versäumen. Das würde sie sich niemals verzeihen. 

Doch wenn sie daran dachte, wem sie spätestens beim Weihnachtsgottesdienst über den Weg laufen würde, krampfte sich ihr Magen zusammen. Vor allem Granny durfte auf keinen Fall erfahren, was ihre Kate getan hatte. Ihre Großmutter war noch von der alten Schule und mit ganz anderen Moralvorstellungen aufgewachsen. Sie würde vermutlich sofort die Augen zum Himmel verdrehen und die Atmung einstellen, nicht bevor sie die Seele ihrer Enkelin auf ewig verflucht hatte.

Drake. Gutaussehend, weltgewandt und unglaublich klug. Als würde ein unsichtbares Band sie immer wieder zusammenführen, waren sie sich im vergangenen Frühjahr [Timeline checken.

Sie hat seit etwa einem Jahr Gewissensbisse (also sowas wie das Weihnachtsfest vor diesem), aber hat erst in diesem Frühjahr was mit Drake angefangen?] ständig über den Weg gelaufen. Nun, da sie ihn besser kannte, war sie sich allerdings sicher, dass er es bewusst darauf angelegt hatte, ihr zu begegnen. 

Damals jedoch war sie so verzaubert gewesen, dass sie das gar nicht bemerkt hatte.

Als ihr aufging, dass er sie plötzlich wie eine Frau betrachtete, dass sein intensiver Blick alles andere als bloß freundschaftlich war, hatte sie nächtelang wach gelegen und davon geträumt, wie es wäre, ihn zu küssen. Seine Hände auf ihrem Körper zu spüren. Das erste Mal im Leben hatte sie sich nach dem verzehrt, was Milly Mansfield bereits im zarten Alter von dreizehn auf dem Rücksitz von Kenneth Schillings Wagen, dem Quarterback der Schulmannschaft, erlebt hatte.

Obwohl Drake von allen Männern in ihrer Umgebung der war, um den sie den größten Bogen hätte machen müssen, hatte sie schließlich ebenfalls begonnen, die Begegnungen zu provozieren und das Verbotene herbeizusehnen. Bis er sie in seiner kleinen Hütte oben in den Bergen nach allen Regeln der Kunst verführt hatte. 

Eine leichte Hitze stieg in ihr auf, als sie daran dachte. 

Dabei war sie im Grunde ihres Herzens froh über den räumlichen Abstand zwischen ihnen, den ihr Studienbeginn [Timeline checken – 

Sie hat seit einem Jahr ein schlechtes Gewissen, hat ab Frühjahr was mit Drake angefangen, dass aber offenbar vor ihrem Studienbeginn (im September) beendet. Das heißt, sie hat im Sommer ihren High School Abschluss gemacht und ist daher jetzt 18, maximal 19 Jahre alt?] mit sich gebracht hatte. Bereits nach kurzer Zeit hatte die Verzauberung sich ein Stück weit gelegt und einem bohrend schlechten Gewissen Platz gemacht. Niemals durfte jemand erfahren, was sich in der Berghütte und später in den unterschiedlichsten Hotelzimmern der Umgebung abgespielt hatte.

In letzter Zeit war sie Drake ausgewichen, wenn er versucht hatte, sie in Yale zu besuchen. Hatte kaum noch auf seine Geschenke reagiert und Stress im Studium vorgeschoben.

Wenn sie ihm jetzt begegnete, wäre sie gezwungen Farbe zu bekennen und ihm zu sagen, dass sie ihn nicht mehr treffen wollte. Sie hoffte zumindest, dass sie das schaffen würde, denn er konnte überaus überzeugend sein und ihr verräterischer Körper war in der Lage, ihren Verstand auszuhebeln. 

Nicht auszudenken, was geschehen könnte, wenn die Affäre herauskäme. Gerade jetzt, zu Weihnachten. Es wäre ihm zuzutrauen, dass er sich über die Gefahr, entlarvt zu werden, hinwegsetzte. Er war ein Mann, der bekam, was er wollte. Dummerweise nahm sie an, dass das immer noch sie war. 

Sie wünschte, sie hätte die Geistesgegenwart besessen, sich rechtzeitig einen neuen Freund zuzulegen, den sie als potenziellen Mr. Right an Weihnachten hätte mitbringen können. Damit hätte sie gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Niemand käme auf die Idee, dass sie eine Affäre mit Drake gehabt hatte, er müsste sie in Ruhe lassen und ihre Mutter würde sich außerdem den Versuch sparen, sie wieder mit ihrem Jugendfreund Flynt zusammenzubringen. 

Wenn sie es doch besser schaffen würde, dem Druck der anderen zu widerstehen. Leider war sie schon immer ein Mensch gewesen, der Konflikten am liebsten aus dem Weg ging.

Das Adrenalin, das sich nach dem Unfall in ihrem Körper gebildet und sie unempfindlich gegenüber der Kälte gemacht hatte, schien aufzuhören zu wirken. Plötzlich merkte sie, wie sehr sie fror. Draußen waren die Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt. Ihre Atemluft hatte dafür gesorgt, dass die Fensterscheiben beinahe komplett beschlagen waren. Sie trank einen Becher Tee, hüllte sich in ihre warme Jacke, setzte Mütze und Schal auf und wickelte die Decke um ihre Beine. Dann verbot sie sich jeden weiteren Gedanken an Drake und widmete sich Lord Byron. Arbeit war schon immer eine ihrer Strategien gewesen, um mit unwillkommenen Gefühlen umzugehen. 

Je mehr sie sich auf die Sprache des Dichters konzentrierte, desto weniger spürte sie die Kälte. Zu ihrer Freude flossen ihr die Worte nur so aus den Fingern. Eine Wartezeit, in der man ablenkungsfrei an etwas arbeiten konnte, war irgendwie auch ein Geschenk. 

Sie wusste nicht, wie lange sie schon mit dem Notizbuch auf den Knien dasaß, als es an der Scheibe klopfte. 

„Hallo? Ist jemand hier drin?“

Der Schreck ließ sie derart zusammenzucken, dass sich die Hälfte ihrer Aufzeichnungen im Fußraum ausbreitete und sie nur mit Mühe ihren Laptop daran hindern konnte, den Notizen zu folgen. Tief versunken in ihrer Arbeit hatte sie weder die Geräusche eines Autos noch Schritte wahrgenommen. 

„Hallo?“, fragte es erneut, gefolgt von einem energischen Klopfen gegen das Fenster. Dann verdunkelte sich das Auto, weil sich jemand vorbeugte und versuchte, in den Innenraum zu spähen. 

In Ermangelung eines Lappens wischte sie die beschlagene Scheibe mit ihrem Schal frei und blickte direkt in ein Paar hellblauer Augen unter einer grauen Wollmütze. 

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Kate nickte und öffnete das Fenster. 

„Sind Sie verletzt?“ Der Fremde blickte sie prüfend an. Mit dem Piercing in der Braue und der Tätowierung, die sich bis zu seinem rechten Ohr hochzog, sah er aus, als würde er zu einer Rockergang gehören.

„Nein, ich habe mich bloß etwas erschreckt.“ Sie beugte sich vor und klaubte ihre Notizen hastig wieder zusammen. 

„Ist das hier Ihre übliche Arbeitsumgebung?“

Sie lachte zaghaft. „Nicht unbedingt. Ich bin einem Tier ausgewichen und nun stecke ich hier fest und warte auf die Pannenhilfe. Die haben allerdings gesagt, dass es dauern wird.“

Er runzelte die Stirn und sie entdeckte eine gezackte Narbe über seiner linken Augenbraue, die ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. 

„Bei dem Wetter? Sie könnten erfrieren.“

„Sie sagten, dass ich im Notfall nochmal rufen soll“, erwiderte sie mit dem merkwürdigen Gefühl, die Leute von der Pannenhilfe verteidigen zu müssen.

Der Rocker betrachtete den Wagen und zog unschlüssig seine Mütze zurück.

„Hat ordentlich geschneit. Wollen Sie hier warten, oder soll ich Sie mit in die nächste Stadt nehmen? Da hätten Sie es wärmer.“

Zögernd musterte Kate den Fremden. Er sah nicht eben vertrauenserweckend aus, doch inzwischen fror sie ganz erbärmlich. Außerdem war unklar, wann die Pannenhilfe endlich aufschlagen würde, wenn sie es denn überhaupt hier hinaus schaffte. 

Kate nickte. „Vielen Dank. Das wäre toll.“

„Wieso bloß habe ich das Gefühl, gerade eine Prüfung bestanden zu haben.“ Ein Grinsen erhellte sein Gesicht, das ihn überraschend attraktiv aussehen ließ. 

Dann hielt er ihr die Hand hin und half ihr, durch die Scheibe hinauszuklettern. Kaum hatte sie es endlich geschafft, versank sie bis zu den Knien in einer Schneewehe. Er lachte schallend.

Verwundert bemerkte sie, dass er hoch über ihr aufragte. Sie selbst war keine Riesin, aber er wirkte, als wäre er mindestens zwei Meter zwanzig. Er streckte ihr beide Hände hin und zog sie zu sich hinüber. Obwohl er keine Handschuhe trug, waren seine Finger warm und fühlten sich erstaunlich kräftig an. Als sie neben ihm zum Stehen kam, hatte sich der Größenunterschied auf ein normales Maß relativiert, auch wenn er immer noch mindestens einsneunzig zu sein schien.

„Ich habe nicht gemerkt, dass es hier einen Graben gab.“ Sie lachte verlegen. 

„Der hat Sie wahrscheinlich vor größerem Schaden gerettet.“ 

Er deutete auf die Kiefer. Ihr schauderte bei dem Gedanken an den Moment, als sie auf den mächtigen Baum zugerast war. Sie war sich sicher gewesen, nun ihr eigenes, schmerzhaftes Ende zu erleben. Durch den vielen Schnee hatte sie das ausgetrocknete Flussbett gar nicht sehen können, dass ihr Auto letztlich gestoppt hatte.

„Ich bin Kate.“ Sie streckte ihm die Hand hin. „Kate Watson.“ 

„Jordan. LeClerc.“

Ihr entging nicht das leichte Zögern vorher und sie fragte sich, ob er ihr seinen wahren Namen genannt hatte. Doch was für einen Grund konnte er schon haben, sie anzulügen.

Mittlerweile hatte der Schneefall sich gelegt. Ein einzelner zarter Sonnenstrahl streckte die Nase durch die Wolke, brachte die weiße Pracht zum Glitzern und verwandelte die Hügel von Vermont in eine verwunschene Schneelandschaft. 

Behaglich lehnte Kate sich in ihrem Sitz zurück und dachte daran, mit wie wenig man im Leben schon zufrieden sein konnte. Sich aufzuwärmen, wenn man durchgefroren war, gehörte definitiv dazu. Nun fehlte nur noch ein warmer Kakao, wie es ihn im Haus des Nachbarsjungen immer gegeben hatte. Flynt und sie waren als Kinder unzertrennlich gewesen. Sie hatten sich sogar geschworen, zu heiraten, wenn sie groß waren. 

Flynt. Sie seufzte. 

Nun war er wieder da, der Knoten in ihrem Magen. Ein paar selige Minuten hatte sie nicht an ihren Jugendfreund, an seine Eltern und ihre eigenen Schuldgefühle gedacht. Wenn man bedachte, dass sie damals bei ihnen ein und ausgegangen war, dass die Benjamins so etwas wie ihre zweite Familie gewesen waren, wog das, was sie getan hatte, doppelt schwer. 

„Schau nicht so kritisch. Ich bin kein Frauenmörder, der in den Hügeln hier Ausschau nach Verkehrsopfern hält, um ihnen in einer einsamen Berghütte den Garaus zu machen.“ 

Jordan entblößte zwei Reihen strahlend weißer Zähne. 

Kate zwang sich, ebenfalls zu lächeln. „Es hat nichts mit dir zu tun. Es ist … mein Leben ist grad ziemlich kompliziert.“

„Verstehe.“ Er beugte sich vor, um sich auf seinem Navi die Strecke anzeigen zu lassen, die er fahren wollte. „Als Nächstes kommt Fayston. Soll ich dich da herauslassen?“

„Moment mal, fährst du etwa nach Dawsonhills?“, fragte sie überrascht, als der Bildschirm vor ihr einen Augenblick lang das Ziel einblendete.

Er warf ihr einen Seitenblick zu und runzelte die Stirn. Ihr Retter schien nicht unbedingt amüsiert über ihr Neugierde. „Kann schon sein.“

„So ein Zufall! Da muss ich auch hin.“ Wenn sie jetzt tatsächlich eine Mitfahrgelegenheit gefunden hatte, würde ihrer Mutter die Verspätung kaum auffallen. 

Ein unergründlicher Gesichtsausdruck huschte über Jordans Gesicht. „Ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich da wirklich hin will“, erwiderte er ausweichend, als könnte er Kate nicht schnell genug wieder loswerden.

„Ach komm schon. Ich bin still und störe dich nicht in deinen brütenden Gedanken.“ Kate setzte ein charmantes Lächeln auf. „Du kannst mich doch nicht erst retten und dann wie eine räudige Katze an der nächsten Straßenecke absetzen.“

Er schnaubte. „Ich wollte dich nicht an einer Straßenecke, sondern an einem gemütlichen, warmen Diner absetzen, das ist schon ein Unterschied!“

„Allerdings kann man ja nicht wissen, ob die an einem Tag wie heute aufhaben, bis der Abschleppwagen kommt. Es ist Heiligabend. Und dann ist unklar, ob ich weiterfahren könnte oder ob mein Auto kaputt ist. Stell dir vor, ich strande vor dem Diner und muss die Nacht in der Kälte verbringen! Ich könnte jämmerlich erfrieren. Kannst du das mit deinem Gewissen verantworten?“

Er schnaubte. „Wenn ich nicht angehalten hätte, wäre das auch dein Problem!“

„Aber du hast angehalten. Also bist du ein netter Mensch, der eine Frau in Nöten nicht an der Straßenecke absetzt.“

„Ich glaube nicht, dass du so sehr in Nöten bist. Irgendjemand könnte dich sicherlich in dem Diner aufgabeln, bevor es schließt, oder?“

Kate seufzte. „Du hast ja recht. Aber hast du schon einmal eine Standpauke von meiner Mutter bekommen? Sie ist Pünktlichkeitsfanatikerin und wird ziemlich sauer sein, wenn ich zu ihrer Weihnachtsparty zu spät komme. Komm schon, gib dir einen Ruck!“

Er hob abwehrend die Arme. „Ja, ja, in Ordnung. Aber tu mir einen Gefallen und quatsch mir keine Kante an den Kopf, während wir fahren.“ 

Wie gut, dass sie Jordan überredet hatte, ihr Gepäck aus dem Kofferraum mitzunehmen, dachte Kate, als sie nun ein wenig entspannter die Fahrt genoss. Immerhin wäre sie jetzt halbwegs pünktlich zu Hause.

Er drehte das Radio lauter, in dem Weihnachtsklassiker rauf und runter liefen. Als „Merry Christmas“ von einer dieser unzähligen Boybands gespielt wurde, brummte er und stellte das Radio wieder aus. Kate konnte ihn verstehen. Sie wunderte sich auch, wieso Jahr für Jahr immer dieselben Songs gespielt wurden. 

Allmählich färbte der Horizont sich rosa-violett und verwandelte die Landschaft in eine übertrieben kitschige Postkartenidylle. Sie betrachtete ihn von der Seite und fragte sich, was er wohl allein in Dawsonhills wollte. Ihre Heimatstadt war ziemlich klein. Wenn er ebenfalls dort aufgewachsen wäre, müsste sie ihn kennen. Sie war sich aber sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Auch wenn ihr sein Gesicht mit den hellen Augen und dem energischen Kinn beim näheren Betrachten irgendwie bekannt vorkam.

„Was willst du denn in Dawsonhills?“, erkundigte sie sich schließlich, als das Schweigen zwischen ihnen ihrer Ansicht nach lange genug gedauert hatte.

Er warf ihr einen wütenden Blick zu. 

„Schon gut, schon gut, ich habe verstanden. Keine Fragen stellen, nicht reden.“ Demonstrativ zog Kate ihr Buch aus der Tasche.

„Ich habe gehört, dass es ein nettes Fleckchen Erde sein soll“, brummte er, offenbar in dem Versuch, weniger unhöflich zu sein. 

„Wo wirst du denn wohnen?“

„Gar nicht neugierig, oder was?“

„Entschuldige, dass ich frage!“ Im Grunde genommen war Kate dieser Typ mit dem protzigen SUV, der auch einem Zuhälter oder Drogenboss hätte gehören können, herzlich egal. Hauptsache, sie kam heute noch zuhause an. 

„Ich brauchte Abstand von allem und habe einen Ort gesucht, an dem ich mich fernab von meinem Alltag über die Weihnachtstage ausruhen kann“, sagte er schließlich etwas freundlicher. 

Kate nickte. Städter kamen häufiger mal in die Hügel von Vermont, um Ruhe und Frieden von der täglichen Hektik zu finden. Deshalb waren die wenigen Pensionen in ihrem Ort über die Weihnachtstage immer voll ausgebucht. Dafür durften die Einheimischen dann die merkwürdigen Attitüden der New Yorker bestaunen, die hier im Winterwunderland die Zeit zwischen den Jahren verbrachten. 

„Ich nehme an, du wirst bei Mrs. Gibbs einkehren?“

Er warf einen Blick zu ihr hinüber. „Mrs. Gibbs?“, fragte er verwundert und überholte einen alten Pick-up, der mit Schrittgeschwindigkeit vor ihnen entlangfuhr. 

Vermutlich auf Sommerreifen, dachte Kate. 

„Sie hat die beste Pension in der Stadt. Oder hast du eine der Hütten in den Hügeln oben gemietet?“ 

Er lachte auf. „Nein. Ich wollte mich erst einmal umsehen und dann entscheiden, ob ich bleiben oder meinen Roadtrip fortsetzen möchte.“ 

Kate sah ihn mit großen Augen an. „Das ist nicht dein Ernst!“ Sie kicherte. 

„Wieso?“

„Die paar Unterkünfte in der Stadt sind über die Weihnachtstage auf Jahre hinaus ausgebucht. Ich glaube nicht, dass du spontan auch nur einen Stall mit einer Krippe finden wirst!“

Er pfiff leise durch die Zähne. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Gegend hier derart beliebt ist.“ 

„Dann weißt du wohl noch nicht, wie das perfekte Weihnachten hier in Vermont aussieht. Du kannst es auch Winter Wonderland nennen. Überall gibt es Pferdeschlitten. In den Straßen wetteifern die Häuser darum, wer die aufwändigste und schönste Dekoration aufgefahren hat. Weihnachtsmärkte und Basare locken mit ihren Leckereien. Wer einmal das Fest hier verbracht hat, der möchte nie wieder irgendwo anders feiern.“

„Du klingst wie eine lebendige Werbebroschüre“, grinste er. „Folglich gibt es also nichts, was dich davon abhalten könnte, dein Weihnachtsfest hier zu verbringen. Außer einem kleinen Schneeunfall natürlich.“

Da hatte er recht. Unter normalen Umständen hätte sie nichts davon abhalten können.

„Du wirst lachen“, entgegnete sie, „genau in diesem Jahr hatte ich tatsächlich andere Pläne. Es hätte mein erstes Weihnachten in Yale sein sollen. Und ich war sehr traurig, dass mir auf diese Art und Weise die Weihnachtsstimmung entgehen würde.“

Interessiert blickte er sie an. „Was hat deine Meinung geändert?“

„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Kate ausweichend. „Wo kommst du denn eigentlich her?“, erkundigte sie sich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. 

Er winkte ab und seine Miene verschloss sich. „Süße“, sagte er mit einer Herablassung, die Kates Adrenalinspiegel auf ein gefährliches Maß ansteigen ließ, „ich bin gar nicht so heiß auf Small Talk. Wenn du darüber nicht reden möchtest, ist das kein Problem.“

Bewusst konzentriert richtete er den Blick auf die Straße und stellte das Radio wieder an. Ihre Unterhaltung sah er offenbar als beendet an. Kate schüttelte innerlich den Kopf, wandte sich ihren Notizen zu und beschloss, ihn jetzt ebenso zu ignorieren wie er sie. Im Grunde genommen war es egal, ob er freundlich oder nicht war, wenn er wusste, wie man das Auto sicher durch den Schnee steuerte.

Plötzlich gab ihr Handy einen aufdringlichen Ton von sich, mit dem es freudig ankündigte, dass eine Nachricht eingetroffen war. Kate schaute auf das Display und erbleichte. 

Habe zufällig gehört, dass du Weihnachten doch kommst. Vermutlich wolltest du mich überraschen. Eigentlich solltest du aber wissen, dass ich nicht auf Überraschungen stehe. Freue mich trotzdem, dich zu sehen. Ich bin mir sicher, dass wir einen Weg finden werden. Kuss. 

Verdammt, wie hatte Drake erfahren, dass sie nach Dawsonhills kam? Mühsam bekämpfte sie die Panik, die in ihr aufstieg. Sie hatte ihm bereits vor zwei Wochen geschrieben, dass sie in Yale bliebe und dass es ihr nichts ausmachte, die Feiertage dort zu verbringen. 

Das konnten nur ihre Eltern gewesen sein. Dabei hatte sie inständig gehofft, dass sie die Benjamins in diesem Jahr nicht zu ihrer Party eingeladen hatten. Sie stellte sich vor, wie sie ihm vor den Augen aller begegnete und spürte, wie ihr beim Gedanken daran der Schweiß ausbrach. Drake konnte unberechenbar sein.

(…)

Wollt ihr wissen, wie es mit Jordan und Kate weitergeht? Hier geht es zum kompletten Roman!