Eis
Hier mein Beitrag zum diesjährigen Autorenadventskalender. Dies ist eine kleine Geschichte, die ich zum Start einer Fantasyidee geschrieben habe, also mal ein etwas anderes Genre. Was sagt ihr dazu?
Kalt. Das ist ihr erster Gedanke, als sie zu sich kommt. Eiskalt. Wie eine Schraubzwinge lähmt die Kälte in ihrem Körper. Kaum kann sie ihre Gliedmaßen bewegen. Undeutlich fokussieren ihre Pupillen schneebedeckte Tannen. Doch schon das Öffnen der Augen bedeutet eine immense Kraftanstrengung. Ihre Lider flackern, dann schließen sie sich. Sie ist erschöpft. Sie braucht Ruhe, lässt sich zurücksinken, bis die Schwärze sie fast vollständig umschließt. Nur ein kleiner Gedanke bohrt sich in ihr Sein. Wenn du jetzt einschläfst, wirst du nie wieder erwachen.
Beinahe findet sie diesen Gedanken in Ordnung, attraktiv. Aber nein. Sie will noch nicht gehen. Will doch nicht aufgeben, auch wenn das Kämpfen mit Schmerzen verbunden sein wird. Mit mehr Schmerzen, als sie aushalten kann. Sie klammert sich an den letzten Funken Leben. Zieht sich an ihm hoch wie an einem Seil. Hinaus aus dem Brunnen des Vergessens. Mit letzter Kraft öffnet sie die Augenlider noch einmal. Eine schier unmenschliche Anstrengung.
Da blickt sie in das alte, unsinnige Gesicht einer Eule. Doch halt. Dieser Gedanke ist falsch. Die Eule ist keine Eule, sondern eine Frau. Älter als sie je eine gesehen hat. Mit derart buschigen Augenbrauen und einer schnabelähnlichen Nase, dass ihr die Verwechslung niemand übel nehmen kann. Die Eule sagt etwas, doch ihre Stimme ist nur ein Rauschen, schafft es nicht bis in ihr Gehirn. Sie rüttelt an ihren Schultern und schreit, versucht, sie auf die Füße zu ziehen.
„Schnell!“, kreischt sie. Das Mädchen wundert sich, dass sie sie plötzlich doch hört. „Aufstehen. Gefährlich.“
Hektisch rotieren die knopfartigen Augen der Alten hin und her. So wild, dass das Mädchen den Kopf hebt, um zu sehen, was sie sieht.
Eine donnernde, stampfende graue Masse kommt direkt auf sie zu. Der Anblick der Reiterbrigade in silbernen Rüstungen jagt unerwartet Adrenalin durch ihre Adern. Plötzlich steht ihr erfrorener Körper in Flammen. Sie springt auf. Starrt den Reitern entgegen wie ein Reh in die Augen des Jägers.
Erst als ihr ein rauer Stoff um die Schultern gelegt wird, bemerkt sie, dass sie nackt ist. Splitterfasernackt. Sie schaut an sich herunter. Auch keine Schuhe. Die alte Frau zehrt an ihr. „Schnell! Hier bist du nicht sicher!“
Endlich lässt das Mädchen sich mitziehen. Ringsherum ist nichts als Schnee. Eine menschliche Behausung ist nicht zu erkennen. Sie stolpert hastig den Weg entlang. Doch das Donnern kommt näher.
„Los!“, drängt die Frau.
Das Mädchen versteht die Dringlichkeit. Aber ihre empfindlichen Füße kommen nicht gut voran auf dem eisigen Untergrund. Sie ist langsam. Schließlich rutscht sie aus und stürzt. Die Hand der Eule entgleitet ihr. Ein bedauernder Blick. Das Mädchen ist verloren. Dann hastet die Frau allein weiter. Viel schneller, als es mit ihren uralten Beinen möglich sein sollte.
Todesangst ist ansteckend. Das Mädchen rappelt sich hoch, rennt, so schnell, wie sie ihr Leben lang noch nie gerannt ist, macht kostbare Meter gut. Vergessen die Tatsache, dass der eisige Boden sich schmerzhaft in die nackten Füße bohrt. Kaum mehr nimmt sie wahr, dass an der Wurzel einer großen Kiefer der Nagel halb abreißt.
„Anhalten, wenn dir dein Leben lieb ist“, befielt plötzlich eine barsche Stimme hinter ihr. Fünf Silbergestalten kreisen sie ein. Wuchtige Kerle, die Gesichter verzerrt durch den Nasenschutz der Helme, auf gigantischen Rappen, aus deren Nüstern Rauch zu kommen scheint. Die Männer starren sie regungslos an. Sie ist froh über die Decke, die die alte Frau ihr gegeben hat. Fest zieht sie sie zu, damit niemand ihre Blöße sieht.
Auf ein Kommando des Mannes zu ihrer Linken ziehen alle gleichzeitig ihre langen Schwerter aus der Scheide. Das scharrende Geräusch dröhnt in ihren Ohren, verursacht ihr eine Gänsehaut. Sie richten die Schwerter so auf sie, dass ihr nur ein winziges bisschen Bewegungsfreiheit bleibt. Merkwürdigerweise verspürt sie kaum Angst. Das Ganze ist derart irreal, dass sie sich in einem Traum wähnt.
„Seht mal, wen wir hier noch haben!“ Ein Mann in einer altmodischen Lederkluft hat der alten Frau ein Messer an den Hals gelegt und schiebt sich vor sich her. Er stößt sie in die Mitte, wo sie nur um Haaresbreite die gefährliche Schneide zweier Schwerter verfehlt, auf den Boden sackt wie ein Bündel Lumpen und sich nicht mehr rührt.
„Wenn das nicht schon wieder die alte Adelaide ist“, brummt der Anführer. „Wie kommt es, dass, wann immer eine blanke Jungfer gefunden wird, du mit deiner Visage nicht weit bist? Vielleicht soll ich es doch noch einmal mit der Streckbank versuchen, um aus dir herauszubekommen, was für Aufgaben die Rote Königin dir anvertraut hat!“
Die alte Frau schweigt und rührt sich nicht.
In diesem Moment ist dem Mächen alles klar. Erleichterung durchströmt ihre Adern. Das hier ist irgendein bescheuertes Live-Action-Theater, das ihre Eltern angezettelt haben, um ihr den schlimmsten Drogentrip ihres Lebens zu bescheren.
Sie erinnert sich genau an die Drohung ihrer Mutter. „Noch einmal. Nur noch einmal machst du so einen Scheiß, dann sperre ich dich ein, bis du deine Lektion gelernt hast und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“
Abschätzig blickt sie den Anführer an. Wie gut, dass sie auf die Spielchen ihrer Mutter schon lange nicht mehr hereinfällt. „Du kannst meiner Mutter sagen, dass ich ihr diese Nummer nicht abkaufe. Und jetzt nimm das Schwert von meinem Hals, bevor ihr dir meinen Anwalt auf den Leib hetzte.“
Ein Ausdruck leichter Verwunderung erschien in den kalten Augen ihres Gegenübers.
‚Tja, so ein guter Schauspieler bist du eben doch nicht‘, denkt sie, als die beobachtet, wie er seinen Mitspielern einen Wink gibt, um das Theater zu beenden.
Da steht plötzlich ein bärtiger Mann vor ihr und verpasst ihr eine schallende Ohrfeige, die sie neben die immer noch reglos daliegende Frau in den Schnee katapultiert.
„Nicht bewegen und nichts sagen“, raunt diese ihr kaum hörbar zu, als sie auf der kalten Erde liegt und darauf wartet, dass die Welt aufhört, um sie herum Samba zu tanzen.
(…)
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